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Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Titel: Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
Autoren: Michael Hagner
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– in vielen Fällen von den Ehefrauen der Dozenten und anderen Einwohnern der Stadt Ithaca im US -Bundesstaat New York geleistet.
    Im Grunde wurde das Phänomen der Wissensentfremdung zuerst in den Geisteswissenschaften erörtert, wenn auch freilich nicht unter dieser Bezeichnung. Junge amerikanische Forscher kamen während ihrer wissenschaftlichen Wanderjahre zu der Überzeugung, daß das an den deutschen Universitäten gepflegte hochprofessionalisierte philologische Studium klassischer Werke einer Würdigung der literarischen Qualität nur wenig Raum ließ. Ja, in den ersten Jahrzehnten des 20 . Jahrhunderts wurde die gelehrte deutsche Forschung mit ihrer Strenge und ihrem Interpretationsverzicht von vielen amerikanischen Literaturwissenschaftlern ausdrücklich abgelehnt. Männer wie Wilbur Cross (Yale) und Bliss Perry (Harvard) lehnten sich dagegen auf, indem sie Lehrveranstaltungen über moderne Literatur abhielten, um den Studierenden ein Mittel zur allgemeinen Selbstverbesserung und Selbstbildung an die Hand zu geben. Zugleich waren sie als Herausgeber allgemeinbildender Zeitschriften tätig, die das Publikum mit der literarischen Kultur bekannt machen sollten.
    Solche Revolten gegen die seit kurzem strenge und professionalisierte Geisteswissenschaft waren nicht gegen das Wissen selbst gerichtet. Ganz im Gegenteil: Es handelte sich um Aufstände gegen die Wissensentfremdung, die mit der Beschlagnahmung des Wissens durch die Klasse der gelehrten Forscher einherging. Nach der Vorstellung dieser Revolutionäre gab es kontinuierliche Übergänge zwischen Generalisten- und Spezialistentum und keine scharfen Grenzen zwischen Amateuren und Professionellen. Ungefähr in der Mitte dieses Kontinuums, meinten sie, könne es so etwas wie den »spezialisierten Amateur« geben, mithin das Wissen nichtprofessioneller Personen, die ein Spezialgebiet zu ihrem Steckenpferd machten und einen großen oder den größten Teil ihrer »Mußezeit« einem bestimmten Wissenszweig widmeten.
    Aus der Rückschau ist der spezialisierte Amateur kaum in den Blick zu bekommen. Denn der ideale Leser der von Bliss Perry herausgegebenen Zeitschrift Atlantic Monthly oder der Yale Review von Wilbur Cross war – ebenso wie der ideale Leser der sozialwissenschaftlichen Pendants The Survey und The Outlook – ein Leser, der seinerseits keine Artikel veröffentlichte. Vielmehr gab er sein Wissen an den Ehepartner oder an Essensgäste weiter, redete im Klub über das Gelesene und plauderte nach dem Gottesdienst, beim Spaziergang im Park oder bei einem Geschäftsplausch mit Freunden über Ideen. Aber man sah die Sache nicht als wichtig an. Und letztlich haben sich die Geisteswissenschaften in eine Sprache und eine Reihe von Fragestellungen geflüchtet, die nicht weniger geheimnisvoll und entfremdet sind als die der Natur- und der Sozialwissenschaftler.

    5. Fazit
    Abschließend möchte ich folgendes sagen: Uns direkten Nachfahren der Professionalisierer kommt die im frühen 20 . Jahrhundert erfolgte Professionalisierung des Wissens wie ein unvermeidlicher Schritt auf dem Weg des Fortschritts der wissenschaftlichen Verfahren vor, wobei es sich nicht nur um Fortschritte der Methode und der Strenge, sondern auch des passionierten und intensiven Engagements handeln soll. Es gab jedoch viele, die diese Entwicklung beklagten. In den Sozialwissenschaften wurden das neue Engagement und die neue Strenge offenbar um den Preis einer immer geringeren Beteiligung an sozialen Hilfsprojekten erkauft. Sogar im Bereich der sozialen Dienste wurden die nichtprofessionellen Mitarbeiter ständig hinausgedrängt. Dadurch wurden die seit langem bestehenden Verbindungen zwischen dieser Berufsgruppe und jener umfassenden Koalition aus Geistlichen, Philanthropen und Aktivistinnen, deren Initiative diese Profession ihre Existenz verdankt, immer schwächer. Während sich das Expertentum ausbreitete, wurde das Wissen der Nicht-Experten in Frage gestellt und in der Mehrzahl der Fälle bestritten. Die professionellen Wissenschaftler schritten auf dem Weg zum abstrakten Wissen und zur Wissensentfremdung voran.
    Am ehesten hat sich der Amateur als Spezialist in den Naturwissenschaften halten können, vor allem in den Bereichen, wo routinemäßige Datenerfassung eine große Rolle spielt. Amateur-Astronomen bleiben veränderlichen Sternen auf der Spur, und Botaniker sammeln seltene Arten, während Freizeit-Meteorologen die Aufzeichnung der lokalen Wetterdaten besorgen, die für die
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