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Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Titel: Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
Autoren: Michael Hagner
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bestimmten Form zu systematisieren. Sie schätzte die Spiritistin und Pädagogin Mary Everest Boole genauso, wie sie Adolf Meyer oder Robert Park verehrte. Noch wichtiger war, daß sie ihr Wissen nicht in die Form scharf abgezirkelter, geradliniger Argumente goß, sondern durch assoziative Verbindungen zusammenstellte, die auf kühnen Analogien beruhten: Der Spiritismus wurde mit der Soziologie verknüpft, das Freudsche Denken mit pädagogischen Theorien, der Behaviorismus mit der Kultur.
    Doch Interdisziplinarität und eine äußerst assoziative Form des Denkens waren nicht nur für Mrs. Dummer als Amateurin charakteristisch, sondern in gewissem Maße auch für Henderson und Thomas, obwohl beide durch und durch professionelle Wissensarbeiter waren. Und hier möchte ich eine weitere wichtige Eigenschaft hervorheben, die allen drei Personen gemeinsam war, nämlich den Mangel an Wissensentfremdung. Damit meine ich, daß ihre Sozialwissenschaft und ihr Alltagsleben ganz kontinuierlich ineinander übergingen. Das hatte nicht bloß damit zu tun, daß sie ein aktives Reformerleben führten, obwohl das für alle drei tatsächlich galt. Vielmehr hing es damit zusammen, daß sie sich selbst nicht als Fremde und Außenstehende, sondern als Bestandteile der von ihnen analysierten Welt sahen. Dazu war keine Reflexivität à la Bourdieu nötig, denn von der Sozialwissenschaft machten sie sich keine Vorstellung, die sie dem Zugriff ihres eigenen Erklärungsapparats entzogen hätte. Ihre Ideen galten auch für sie selbst. Ich werde geltend machen, daß Wissensentfremdung eines der maßgeblichen Merkmale von Wissenseliten ist und daß die Wiederherstellung der Verbindung mit Amateuren – eine Stärkung der Wissensdemokratie, wenn man es so ausdrücken möchte – heute aufgrund dieser Entfremdung besonders notwendig ist.

    4. Wissensentfremdung
    Unter »Wissensentfremdung« verstehe ich die problematische Trennung zwischen Arbeitswissen und Lebenswissen. In den verschiedenen Bereichen der Wissenschaft nimmt dieses Phänomen der Wissensentfremdung unterschiedliche Gestalt an. In den Sozialwissenschaften äußert es sich, wie meine Analyse nahelegt, in der Form, daß ein und dieselbe Person mit zwei verschiedenen Denksystemen arbeitet. Das eine System ist die Sozialwissenschaft, mit deren Hilfe der Sozialwissenschaftler die Tätigkeiten fremder Personen erklärt. Das andere System ist ein System normativer Überzeugungen, mit deren Hilfe der Sozialwissenschaftler das eigene Handeln nicht erklärt, sondern steuert. Um es unverblümt zu sagen: In den Sozialwissenschaften gehen wir heute tendenziell von der Vorstellung aus, die Gegenstände unserer Forschung ließen sich durch soziale und historische Kräfte erklären, während wir uns selbst als Kantische Individuen betrachten, die frei zwischen Werten, politischen Alternativen und verschiedenen Formen des Engagements wählen. Praktisch äußert sich das in der Vorstellung, Befürwortung und Objektivität seien getrennte Dinge und irgendwie seien wir dazu imstande, der Sozialwissenschaft auf »professionelle« Weise nachzugehen, so daß wir sie anschließend der Welt der »politischen« Maßnahmen zur Verfügung stellen können. Wir bilden uns ein, die Werte des letzteren Bereichs von der bewußten Entfremdung im ersteren Bereich trennen zu können.
    In den Naturwissenschaften hingegen äußerte sich die Wissensentfremdung in der Form, daß man den Versuch, die natürliche Welt zu verstehen, von der Frage trennte, wie man sich bemühen könnte, die Stellung des Menschen in dieser Welt zu verstehen. Wirft man einen Blick auf die Astronomie gegen Ende des 19 . Jahrhunderts, fällt eine ziemlich große Gruppe von Amateuren auf, die sich in der American Association of Variable Star Observers zusammengefunden hatten. Diese Personen wurden am Observatorium der Harvard University von professionellen Astronomen eingewiesen. Dort leisteten sie tatsächlich wichtige Arbeit, deren Resultate in die Theorien der Sternentwicklung Eingang fanden. In der Praxis hieß das, daß diese Leute folgendes taten: Nacht für Nacht betrachteten sie die Sterne und schätzten, ob sie ab- oder zunahmen. Die Lektüre ihrer Aufzeichnungen ist alles andere als spannend. Doch verstreut unter den Angaben der richtigen Aszendenz- und Azimut-Werte findet sich eine Vielzahl ästhetischer und religiöser Urteile. Im Field Book of the Skies von William Tyler Olcott 4 stößt man auf die folgende Schilderung des Sternbildes
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