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Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Titel: Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
Autoren: Michael Hagner
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spezifischen Vorfall zu rechtfertigen versuchte, wird normalerweise als läppischer Selbstverteidigungsversuch eines charmanten Lustgreises gedeutet, den man auf frischer Tat ertappt hatte. Tatsächlich konnte Thomas aber auf eine weit zurückreichende Geschichte aufrührerischer Äußerungen zum Verhältnis der Geschlechter und über die Rolle der Frau zurückblicken. Daher könnte man dieses Dokument – ja womöglich den ganzen Vorfall – als Beispiel für sein amateurhaftes Vorgehen lesen: Es galt als akzeptabel (wenn auch nur mit knapper Not), Dinge über das Verhältnis der Geschlechter zu sagen, die so revolutionär waren, daß selbst die Frauenrechtlerinnen schockiert waren. Dagegen war es – zu dieser Zeit jedenfalls – nicht mehr akzeptabel, in die Lebenspraxis umzusetzen, was man in der Theorie für richtig hielt.
    Was es mit der amateurhaften Seite von Thomas auf sich hat, geht aus seinem umfangreichen Briefwechsel mit Ethel Sturges Dummer deutlich hervor. Diese Mrs. Dummer war mit ihm befreundet und unterstützte ihn, nachdem man ihn entlassen hatte, mit einer Reihe privater Forschungsstipendien. Ihre Briefe zeigen, daß Mrs. Dummer eine belesene und wagemutige Denkerin war. Von vielen der professionellen Wissenschaftler, die mit ihr korrespondierten, wurde sie freilich nicht wirklich für voll genommen. Adolf Meyer, William Alanson White und andere behandelten sie mit der Nachsicht, die sie für angebracht hielten, wenn sie es mit einer redlichen, wohlmeinenden und ziemlich wohlhabenden Frau zu tun hatten, die sie als Dilettantin einschätzten und deren Geld sie gebrauchen konnten. Thomas hingegen nahm sie völlig ernst, und der Briefwechsel zwischen den beiden ist eine Korrespondenz zwischen Gleichen. Das wiederum ist ein weiterer Hinweis darauf, daß er im Grunde doch ein Profi war, der sich darüber freute, selbständig forschen zu dürfen, und der sich durch den Verlust seiner Position an der Universität nicht besonders aus der Fassung bringen ließ.
    Wer war diese Mrs. Dummer? Sie wurde 1866 als ältestes von neun Kindern des in Chicago ansässigen Bankiers George Sturges und seiner Frau Mary Delafield geboren. Sie heiratete Frank Dummer und spielte in der vornehmen Gesellschaft von Chicago und in den damit verbundenen amateurwissenschaftlichen Kreisen eine Rolle. In der Welt der sozialen Fürsorge war Mrs. Dummer zur gleichen Zeit aktiv wie Julia Lathrop, Allen Pond und Sophonisba Breckinridge, mit denen sie ebenso befreundet war wie mit den ebenfalls ihrer eigenen Generation angehörenden Psychiatern Adolf Meyer und William Alanson White, mit den Soziologen Robert Park und William Isaac Thomas, den Philosophen George Herbert Mead und George Patrick und dem Neurologen Charles Judson Herrick. Diese Männer und Frauen, die nach den damaligen Maßstäben allesamt als anerkannte Fachleute galten, gehörten zu den wichtigsten Gesprächspartnern von Mrs. Dummer. Aber auch zu der unmittelbar vorangehenden nichtprofessionellen Generation hatte sie Verbindungen, unter anderem zu Wegbereitern der Sozialfürsorge wie der Hilfswerkgründerin Mary McDowell, philanthropisch gesinnten Personen wie Lucy Flower und Louise De Koven Bowen und sogar zu dem Naturforscher William Ritter. Auch unter den Angehörigen der folgenden Generation hatte sie zahlreiche Protegés und Gesprächspartner: die feministische Schriftstellerin Katharine Anthony, sozial aktive Personen wie Edward Burchard und Jessie Binford, den Soziologen Ernest Groves sowie, in der darauffolgenden Generation, die Philosophen Scott Buchanan und Oliver Reiser, die Sozialarbeiterin Florence Beaman, die Pädagoginnen Irene Thuli und Elizabeth Woods, die Strafrechtlerin Miriam Van Waters, die Soziologen Ernest Bruges und Thomas Dawes Eliot, die Psychiater William Healy, Marion Kenworthy, Samuel Kraines und auch Persönlichkeiten aus unserer eigenen Zeit wie den kürzlich verstorbenen Milton Singer.
    Diese verblüffende Liste zeigt, wie es Mrs. Dummer gelang, zu weit auseinanderliegenden disziplinären Welten Verbindung zu halten. Alle Gebiete waren Wasser auf ihre Mühlen, wurden in ihren Briefen, im Rahmen der von ihr subventionierten und veranstalteten Tagungen und in Gestalt der von ihr finanziell wie persönlich unterstützten Schützlinge unterschiedslos zusammengebracht. Diese Interdisziplinarität war – aus Sicht der professionellen Wissenschaftler – ebenso ein Kennzeichen des Amateurhaften wie ihre Abneigung dagegen, ihr Wissen in einer
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