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Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Titel: Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
Autoren: Michael Hagner
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verblüffend widerstandsfähig, denn die Daten können von den Modellen rekalibriert werden – und umgekehrt. Anscheinend ist die Geschichte des Anthropozäns (und die Klimaforschung besteht per definitionem aus einer Reihe verschiedener historischer Fächer) das am besten dokumentierte Geschehen, mit dem wir es überhaupt je zu tun hatten. Gegen Ende seines Buches behauptet Paul Edwards sogar, wir würden niemals mehr über den gegenwärtigen Erderwärmungstrend in Erfahrung bringen, als wir derzeit wissen, da unser Handeln die Meßgrundlage Jahr für Jahr in so hohem Maße modifiziere, daß wir niemals über eine Meßgrundlage verfügen werden, um die Abweichung vom Mittelwert berechnen zu können. – Wie pervers! Wir sind Zeugen eines Vorgangs, durch den die Menschheit ihre Taten tilgt, indem sie so weit von dieser Grundlage abweicht, daß die Spuren ihrer weiteren Abweichungen durch niemanden mehr weiterverfolgt werden können.
    Der Grund, weshalb es so wichtig ist, diesen langsamen Webprozeß der Kalibrierung, Modellierung und Uminterpretation zu betonen, ist folgender: Auch für die Klimaforscher, so geht aus diesem Prozeß hervor, besteht keine Möglichkeit, die Erde auf direktem Weg zu messen. Dank der langsamen Kalibrierungsvorgänge vieler Standardisierungsinstitutionen verfahren sie so, daß sie in ihrem Laboratorium aufmerksam ein lokales Modell beobachten. Hier besteht also keine Kluft, deren Überwindung auch noch ins Auge gefaßt werden müßte: Es ist nicht so, als gäbe es hier einerseits die Wissenschaftler, die von einem vollständigen Überblick über den Globus profitierten, und andererseits den armen Normalbürger mit seiner begrenzten, lokalen Sicht. Es gibt hier ausschließlich lokale Betrachtungsweisen. Allerdings betrachten manche von uns miteinander verbundene Maßstabsmodelle, die auf Daten beruhen, die mit Hilfe immer leistungsfähigerer, von einer stets wachsenden Zahl angesehener Institutionen erprobter Programme neu formatiert worden sind.
    Für diejenigen, die die Lücke überbrücken und die neue Kluft ausloten möchten, kann dieses Herausstreichen der Meßinstrumente ein äußerst wichtiges Hilfsmittel sein – diesmal auf politischem Gebiet. Es bringt dem ökologisch motivierten Aktivisten gar nichts, wenn er den Versuch macht, den Normalbürger zu beschämen, weil dieser nicht global genug denke und weil er kein Gefühl für die Erde als solche habe. Keiner sieht die Erde global, und keiner sieht ein ökologisches System vom Punkte Nirgendwo aus. Dazu sind Wissenschaftler genausowenig imstande wie Bürger, Bauern oder Umweltschützer – oder, um auch seiner zu gedenken, der Erdwurm. Die Natur ist nicht mehr das, was sich von einem weit entfernten Standpunkt aus erfassen ließe, von dem aus sich der Betrachter im Idealfall einen Überblick über die Dinge »als Ganzes« verschaffen könnte. Sie ist vielmehr eine Assemblage widersprüchlicher Entitäten, die zusammengefügt werden müssen.
    Diese Montagearbeit ist besonders dann notwendig, wenn wir uns ein Bild von dem »Wir« machen wollen, dem sich die Menschen zugehörig fühlen sollen, wenn sie die Verantwortung für das Anthropozän übernehmen. Zur Zeit gibt es keinen Weg, der vom Auswechseln der Glühbirne in meiner Wohnung direkt zum Schicksal der Erde führt. Eine solche Treppe hat keine Stufen, eine solche Leiter hat keine Sprossen. Ich müßte schon springen, und das wäre förmlich ein Salto mortale! Alle Assemblagen brauchen vermittelnde Instanzen: auf jeden Fall solche Dinge wie Satelliten, Sensoren, mathematische Formeln und Klimamodelle, aber auch Nationalstaaten, Nichtregierungsorganisationen, Bewußtsein, Moral und Verantwortung. Kann man diese Lektion des Zusammenfügens in die Tat umsetzen?
     
    Ein winziger Pfad hin zu einer solchen Assemblage führt über eine »kartographische Darstellung wissenschaftlicher Kontroversen«, wie sie von einigen Wissenschaftlern, die meine Ansichten teilen, vorgenommen werden. Kontroversen sind nichts, wovor man fliehen sollte, sondern etwas, was man – ein Akteur nach dem anderen – genauso komponieren sollte, wie man ein Klimamodell zusammenstellt, indem man die Akteure nacheinander auftreten läßt: erst die Luftturbulenzen, dann die Wolken, dann die Landwirtschaft und anschließend das Plankton, so daß man mit jedem Auftritt eine realistischere Wiedergabe dieses wahren Globus-Theaters erzielt.
    Der Versuch einer solchen kartographischen Darstellung von Kontroversen ist
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