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Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Titel: Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
Autoren: Michael Hagner
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werden, und darum gehört der Bereich dessen, was man das »Humanistische« ( humanities ) zu nennen pflegte, ab jetzt mit zu unseren Wissenschaften.
     
    Bisher habe ich eine Seite der Kluft betont, nämlich jene, welche die hilflose Menschheit dazu veranlaßt hat, ihre Kleider widerwillig gegen die Superman-Kleider zu tauschen. Jetzt ist es an der Zeit, die Aufmerksamkeit auf die andere Seite zu richten, die früher unter die Bezeichnung »Natur« fiel. Der verzwickte Begriff »Anthropozän« modifiziert die beiden Seiten, zwischen denen eine Brücke geschlagen werden soll. Die Seite des Menschen hat er mit Sicherheit verändert, denn wir haben keine Möglichkeit mehr, das Erhabene zu fühlen. Aber auch die Seite der geologischen Kräfte ist davon betroffen, an der wir Menschen jetzt ausgerichtet und gemessen werden. Zur gleichen Zeit, da die Menschen, ohne schon an ihre Riesenkleider gewöhnt zu sein, die Gestalt der Erde verändert haben, hat sich die Erde verwandelt und ist (um mit James Lovelock zu reden) zu Gaia geworden. Jetzt ist Gaia die große Gauklerin unserer Gegenwartsgeschichte.
    Auf den restlichen Seiten dieses Essays möchte ich erörtern, wie sehr sich Gaia von der Natur früherer Epochen unterscheidet. Sobald wir die beiden Verwandlungen – die eine auf der Seite der Erdlinge, die andere auf der Seite der Erde – zusammengebracht haben, werden wir uns vielleicht in einer besseren Ausgangsposition befinden, um die Lücke zu überbrücken.
    Erstens: Gaia ist kein Synonym für Natur, denn sie ist etwas in hohem und erschreckendem Maße Lokales . Während der von Peter Sloterdijk untersuchten Zeit der Globen (also der Zeit zwischen dem siebzehnten und dem ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert) bestand eine gewisse Kontinuität zwischen allen Elementen des sogenannten Universums, denn es bildete tatsächlich eine Einheit – allerdings war es zu rasch vereinigt worden. Nach Alexandre Koyré sollten wir den Schritt vom beschränkten Kosmos zum unendlichen Universum ein für allemal zurückgelegt haben. Sobald wir die enge Grenze der menschlichen Polis überschritten, bestand alles übrige aus demselben materiellen Stoff: das Land, die Luft, der Mond, die Planeten, die Milchstraße und sogar der Urknall. Das war die Revolution, die mit den Adjektiven »kopernikanisch« und »galileisch« impliziert wurde: Es gab keinen Unterschied mehr zwischen der sublunaren und der supralunaren Welt.
    Wie überraschend ist es aber, wenn man nun ganz plötzlich erfährt, daß doch ein Unterschied zwischen der sublunaren und der supralunaren Welt besteht; und wenn man erfährt, daß nur Roboter und vielleicht eine Handvoll Cyborg-Astronauten die Möglichkeit haben könnten, weiter hinauszureisen, während der Rest von uns – ganze sieben Milliarden – hier unten festsitzt an diesem Ort, der schon zur Zeit des alten Kosmos eine »Kloake aus Verdorbenheit und Verfall« war – oder zumindest ein Gedränge voller Risiken und ungewollter Konsequenzen. Kein Jenseits. Kein Fortkommen. Kein Ausweg. Wir können zwar, wie schon gesagt, immer noch das Erhabene spüren, aber nur noch im Hinblick auf das, was jenseits des Mondes von der Natur übrig ist, und auch das nur, wenn wir den Nirgendwo-Standpunkt einnehmen. Weiter unten gibt es nichts Erhabenes mehr. Folgendes ist eine ungefähre Periodisierung: Auf den Kosmos folgt das Universum, aber auf das Universum folgt wieder der Kosmos. Wir sind zwar nicht postmodern, aber immerhin postnatürlich.
    Zweitens: Gaia ist im Gegensatz zur Natur nicht gleichgültig gegenüber unserer Misere. Es ist zwar nicht so, als ob sie sich »um uns sorgte« wie eine Göttin oder die Mutter Natur aus den ökologischen New-Age-Broschüren. Ja, sie ähnelt nicht einmal dem Pachakamaq aus der Inka-Mythologie, der vor kurzem als neues Objekt der lateinamerikanischen Politik wieder zum Leben erweckt wurde. James Lovelock hat zwar häufig mit Göttlichkeitsmetaphern geliebäugelt, aber seine Erkundung von Gaias Gleichgültigkeit macht mir sehr viel mehr Kummer, denn Gaia reagiert überaus empfindlich auf unser Handeln, und zugleich strebt sie nach Zielen, die keineswegs auf unser Wohlergehen gerichtet sind. Sofern Gaia überhaupt eine Göttin ist, dann ist sie eine, die sich leicht von uns aus dem Gleichgewicht bringen läßt, während sie ihrerseits vielleicht die seltsamsten Formen von »Rache« fordert (um Anleihen beim Titel von Lovelocks schrillstem Buch zu machen * ), indem sie uns abschüttelt und
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