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Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)

Titel: Wissenschaft und Demokratie (edition unseld) (German Edition)
Autoren: Michael Hagner
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das zu beschmutzen, was wahrscheinlich die größte Gewißheit, über die wir je verfügen werden, hinsichtlich dessen ist, wie sehr wir unserem eigenen Ökosystem Schaden zugefügt haben? In diesem Fall riskieren wir, uns für einen ideologischen Kreuzzug rekrutieren zu lassen, um nochmals unsere Verbindungen zur Natur zu moralisieren und den Prozeß gegen Galileo neu zu inszenieren, so als ginge es um die Mißachtung der einsamen Stimme der Vernunft im Kampf gegen die große Masse der Experten.
    Kein Wunder, daß so viele von uns angesichts dieser neuen Kluft die Bewunderung der unschuldigen Kräfte der Natur preisgeben, um sich völliger Mutlosigkeit hinzugeben und sogar den Klimaleugnern Gehör zu schenken. In Requiem for a Species behauptet Clive Hamilton, in einem gewissen Sinn seien wir alle Klimaleugner, denn wir haben keinen Begriff von dieser kollektiven Figur, dem Anthropos des Anthropozäns, dem »Menschen« dieser »von Menschen ausgelösten« Katastrophe. Es liegt an unserer eigenen, von vornherein in uns angelegten Gleichgültigkeit, daß wir dahin gelangen, die Erkenntnisse unserer Wissenschaft zu leugnen. Man denke doch nur: Es wäre so schön, in die Vergangenheit zurückzukehren, in der die Natur erhaben sein konnte, während wir – die mickrigen Menschlein – belanglos waren und uns am inneren Gefühl unserer moralischen Überlegenheit über die reine Gewalt der Natur erfreuen durften. In gewisser Weise ist die Kluft selbst die eigentliche Quelle der Leugnung.
    Was bedeutet es, in der Zeit des Anthropozäns moralisch verantwortlich zu sein, in einer Zeit also, in der die Erde von uns, von unserem Mangel an Moral geformt wird und sogar die Schleife, die unser kollektives Handeln mit seinen Konsequenzen verbindet, in Frage gestellt wird – nur daß es kein in akzeptablem Sinne erkennbares »Wir« gibt, dem man das Gewicht dieser Verantwortung aufbürden könnte?
    Um meinen ersten Gedanken zu resümieren: Wie ist es nach wie vor möglich, angesichts der folgenden Gegebenheiten bei der Betrachtung der von Shelley besungenen immerwährenden Wasserfälle das Gefühl der Erhabenheit empfinden zu wollen? Denn erstens ist es so, daß man gleichzeitig das Gefühl hat, sie könnten verschwinden. Zweitens könnte es sein, daß man für ihr Verschwinden verantwortlich ist. Drittens fühlt man sich doppelt schuldig, weil man sich nicht verantwortlich fühlt. Und auf der vierten Ebene der Verantwortung spürt man, daß man sich mit der sogenannten Klimakontroverse nicht eingehend genug beschäftigt hat; daß man nicht genug darüber gelesen, nicht genug darüber nachgedacht und nicht genug empfunden hat.
     
    Anscheinend läuft der einzige Lösungsansatz darauf hinaus, die Kluft zu erkunden und damit zu rechnen, daß das menschliche Bewußtsein unser moralisches Engagement auf eine so hohe Ebene heben wird, wie es für diese Kugel aller Kugeln – die Erde – erforderlich ist. Doch wenn man sich an neuere Meldungen hält, dürfte es ein wenig riskant sein, sich auf Bewußtseinsbildung zu verlassen, denn die Zahl der amerikanischen und chinesischen und sogar der britischen Bürger, welche die anthropogene Herkunft des Klimawandels bestreiten, nimmt nicht ab, sondern zu. (Sogar im »rationalistischen« Frankreich ist es einem früheren Bildungsminister mit dem hübschen, erbaulichen Spitznamen »Professor Fröhlich« [gemeint ist Claude Allègre; Anm. d. Übers.] gelungen, einem großen Teil unserer besonders aufgeklärten Öffentlichkeit einzureden, wir bräuchten uns um das Klima eigentlich keine Sorgen zu machen, weil es ein dermaßen kontroverses Thema sei.)
    Wie es aussieht, verhalten wir uns eher wie die Menschen in Lars von Triers Film Melancholia und genießen still das einmalige Schauspiel, wie der fremde Planet mit unserer Erde zusammenstößt, indem wir es im lächerlichen Schutz einer Kinderhütte betrachten, die Tante Steelbreaker (Justine) aus ein paar Zweigen errichtet hat. Das ist so, als ob das Abendland gerade jetzt, da die kulturelle Aktivität der Gestaltung der Erde endlich nicht mehr in symbolischem, sondern in buchstäblichem Sinne zu verstehen ist, auf eine völlig aus der Mode gekommene Vorstellung von der Magie als einem Mittel, die Welt vollständig zu vergessen, zurückgriffe. In der frappierenden Schlußszene dieses höchst frappierenden Films besinnen sich diese hyperrationalen Menschen auf das, was alte primitive Rituale leisten sollten, nämlich kindliche Gemüter vor der
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