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Wir tun es für Geld

Wir tun es für Geld

Titel: Wir tun es für Geld
Autoren: Matthias Sachau
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würde laufen müssen, bis sich irgendwas an meiner und Ines’ Situation ändert. Ob der Hochhausrohbau, in dessen 21. Stock wir unsere erste Tangostunde gehabt hatten, nun ein Ziel war, das ich unbewusst angesteuert habe, oder ob es nur ein Zufall ist, dass ich jetzt wieder vor dem Bauzaun stehe und an dem riesigen Betonskelett hochsehe, kann ich nicht sagen. Nur, dass ich jetzt, wo ich schon mal da bin, auch wieder nach oben will, weiß ich auf einmal ganz sicher.
    Das Tor im Bauzaun ist mit Ketten und Vorhängeschlössern gesichert, aber ich muss nicht lange gehen, bis ich eine Lücke finde, durch die ich schlüpfen kann. Ich schlängele mich im Dunkeln an Baugeräten und Sandhaufen vorbei. Schon wieder läuft eine Maus über meinen Weg und verschwindet im Baustellenwirrwarr.
    Wirrwarr.
    Labyrinth.
    Ich: Labormaus, genüsslich beobachtet von Vanessa. Ines: freie Maus an der Außenwand. Ich sprang aber nicht heraus. Stattdessen wurde Ines von Vanessas Labor eingefangen. Oder so. Wenn es nur besser davon würde, wenn man nachträglich Bilder für ein Verhängnis findet.
    Ich balanciere auf einer Holzplanke, die über einen kleinen Graben ins Erdgeschoss führt. Meine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt. Im Nu finde ich das Treppenhaus. Nach den ersten sechs Stockwerken wird mir auf einmal wärmer, und ich merke, wie elend kalt es mir die ganze Zeit war. Bis zum achten Stockwerk halte ich mein Anfangstempo durch, dann muss ich langsamer werden.
    Ich bin wie dieses Haus. Etwa so viele Jahre alt, wie es Stockwerke hat, und mein Leben genauso unfertig. Nichts als Löcher und Lücken und noch nicht einmal eine Fassade. Das wird sich aber bald ändern. Bei dem Haus wird es sich ändern.
    Ab dem 12. Stockwerk ist mir heiß. Ich lockere meinen Schal und stecke die Mütze in meine Manteltasche. Trotzdem schwitze ich. Wie gut das immer funktioniert. Es kann warm oder kalt sein, da wurstelt sich der Körper schon irgendwie durch, ohne dass man groß darüber nachdenken muss. Das klappt heute noch wie bei den ersten Menschen, und genauso gut. Bisschen mehr Kleidung als zivilisationsbedingtes Sahnehäubchen, sonst exakt das Gleiche. Aber warum müssen auch meine Gefühle immer noch wie beim ersten Menschen funktionieren? Geschlechtsreife junge Frau? – Häkchen; Schlüsselreize? – Häkchen; Balzverhalten? – Häkchen, und schon bin ich Neandertaler. Liebe? Ha! Fortpflanzen! Klappt eh nicht wegen Verhütung? Denk nicht so kompliziert… Das müsste längst anders sein. Liebe im 21. Jahrhundert. Neandertaler auf den Müll, hier kommt der Übermann. Warum haben wir uns nicht längst angepasst?
    So, das hier ist endlich das 21. Stockwerk, ich habe während der ganzen Schnauferei genau mitgezählt. Ich gehe etwa dorthin, wo ich die Mitte des Raums fühle, und bleibe stehen, jetzt zum ersten Mal seit Stunden wirklich stehen. Ich stand zwar immer wieder mal an Ampeln, in Wohnungen, in der Straßenbahn, aber jetzt stehe ich richtig. Eine riesige Betonplatte unter mir, eine riesige Betonplatte über mir, getragen von ein paar erstaunlich dünnen Stützen, zwei Treppenhaus- und Aufzugsschächte, sonst nichts. Weil ich in der Mitte bin, sehe ich ringsherum nur den schwarzen Nachthimmel, mit ein paar Andeutungen von Wolken und Mondstrahlen. Der Blick auf die Stadt unter mir wird von der scharfen Kante der Geschossdecke abgeschnitten.
    Und es ist still.
    Von der Tangostunde damals ist nichts mehr übrig. Nicht ein einziger lausiger Campingstuhl wurde vergessen. Jetzt die Zeit zu dem Punkt zurückdrehen, an dem wir hier unsere ersten gemeinsamen Tangoschritte gesetzt haben. In einem Tangokurs, der uns von einem Finanzamt-Sachbearbeiter untergejubelt wurde, der unsere Ehe retten wollte. Verrückt. Alles, was Ekkehart über uns wusste, war falsch. Trotzdem hat er genau das Richtige für uns getan. Wie verdreht. Und am Ende leider doch nur traurig.
    Ich gehe einmal am Rand des 21. Stockwerks entlang und schaue auf die Lichter weit unter mir. Ja, es geht weiter. Für mich, für Ines und für jeden kleinen Lichtpunkt da unten. Und, mal ganz ehrlich, wen bitte schön kratzt das Ganze überhaupt?
    Ja, das war gut. So denken, wie Rick am Ende von Casablanca redet. Das werde ich brauchen. Wenn ich neu starte. Und wenn ich Ines das nächste Mal sehe.
    Es ist zum Kotzen, aber genau in diesem Moment beginnt es wieder in mir zu arbeiten. Wie ein feines goldenes Uhrwerk, das sich über die Jahre von selbst in mir aufgezogen hat, tickt, summt
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