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Wir tun es für Geld

Wir tun es für Geld

Titel: Wir tun es für Geld
Autoren: Matthias Sachau
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und schnurrt Ines in mir und denkt gar nicht daran, sich von Bogarts Gerede beeindrucken zu lassen. Kann ich das aus mir herausreißen, ohne einen Teil von mir herauszureißen? Ein einzelner Mensch, irgendwo da draußen in der Welt, aber doch ganz nah bei mir in diesem Moment – das ist so… wunderbar.
    Und so schrecklich. Ich gehe endlich wieder in die Mitte der Etage und bleibe erneut stehen. Ich denke an nichts Bestimmtes. Ich nehme nur von Zeit zu Zeit wahr, dass mir wieder ein wenig kälter geworden ist. Und noch kälter. Und noch kälter. Und auch wenn das feine goldene Uhrwerk in mir weiterschnurrt, ich lasse es einfach machen und konzentriere mich darauf, ein anderes Uhrwerk zu installieren, das schön leise, aber beständig drei Worte tickt: Es geht vorbei. Es geht vorbei. Es geht vorbei.
     
    * * *
     
    Als ich mich endlich wieder bewege, habe ich auf einmal das Gefühl, dass ich schon längst hätte losgehen sollen. Das »Es geht vorbei«, das ich still bei jedem Schritt auf das Betontreppenhaus zu wiederhole, klingt allmählich ein wenig fester, auch wenn die Worte im Moment noch immer wieder sofort von der emsigen Arbeit des schnurrenden goldenen Ines-Uhrwerks in nichts aufgelöst werden.
    Als ich plötzlich wahrnehme, dass im Dunkeln eine Gestalt die Treppe vom Stockwerk über mir herunterkommt, erschrecke ich so, dass ich mit dem Hinterkopf gegen die Treppenhauswand schlage. Den hellen Schrei, den die Gestalt ausstößt, als sie mich sieht, kann mein Hirn nicht sofort verarbeiten. Erst als es sicher ist, dass der Schlag auf den Hinterkopf harmlos war, und noch dazu durch meine Mütze abgedämpft, beschäftigt es sich wieder mit anderen Aspekten der Situation.
    Der Schrei. Ich sehe nur einen Schattenriss, kein Gesicht, keine Augen. Aber trotzdem bin ich sicher.
    »Hallo.«
    »Lukas? Bin ich vielleicht erschrocken.«
    Der Ines-Schattenriss hält inne. Nein, sie weint nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Ich bleibe wie angewurzelt stehen, bis sie wieder spricht.
    »Warum bist du hier?«
    »Frag mich nicht, ich bin… auf einmal hier gelandet.«
    Ines macht einen Laut, der alles zugleich ist, Lachen, Stöhnen, Schnauben, Räuspern, und sie schüttelt dabei den Kopf.
    »Ausgerechnet dieses Stockwerk?«
    Warum fragt sie? Sie weiß es doch.
    »Nun ja, es ist schließlich… unser Stockwerk.«
    Wieder macht sie diesen Laut, diesmal nur mit etwas mehr Lachen als vorher.
    »Was ist?«
    »Du hast dich verzählt.«
    »Gar nicht. Das ist das 21. Ich hab genau aufgepasst.«
    »Wie lange bist du schon hier?«
    »Weiß nicht, kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit.«
    »Du warst die ganze Zeit hier im 20. Stock?«
    »Im 21. Ines.«
    »Nein. Ich war im 21. Nur ein paar Meter über dir.«
    »Aber dann warst du im 22. Stock.«
    »Nein. Du hast das Zwischengeschoss im Parterre mitgezählt, du Schlumpf.«
    »Aber das zählt doch auch als Stockwerk.«
    »Nein.«
    »Doch.«
    »Hier oben ist das richtige Stockwerk. Das kann ich sogar fühlen.«
    »Dann komm mal hier rein, da fühlst du es richtig.«
    »Okay, Lukas, jetzt haben wir den endgültigen Beweis.«
    »Was?«
    »Wir gehen beide zur gleichen Zeit an den gleichen absurden Ort, aber in zwei verschiedene Stockwerke. Wir sind nicht füreinander bestimmt, was?«
    »Nein.«
    Und während wir über die Stockwerke redeten, sind wir langsam aufeinander zugegangen. Und während wir über die richtige Zählweise stritten, fingen unsere Hände an, sich zu berühren. Und nun spielen wir, während wir aus Spaß immer weiter und weiter und weiter streiten, mit unseren Fingern herum wie ein frisch verliebtes Schülerpärchen in einer stillen Ecke des Pausenhofs. Und während mit jeder Sekunde tonnenweise Eis bricht, Betonwände knacken und Felsblöcke wegrollen, spüre ich Ines’ warme Hände durch die dünne Wolle ihrer Fingerhandschuhe. Und obwohl es nur unsere Finger sind, die miteinander spielen, fühlt es sich doch an, als würden wir uns gerade mit allem, was wir haben, umarmen. Und ich sehe jetzt ihr Lachen und ihre Augen, die mich aus dem Dunkeln heraus anstrahlen.
    »Doppelt verneint ist ja, oder?«
    »Ja. Aber du warst trotzdem im 20.«
    Wir haben uns gefunden. Wenn dieser Satz jemals für jemanden gestimmt hat, dann für uns.
    »Du warst im 22.«
    »Du im 20.«
    »21.«
    »20.«
    »21.«
     
    * * *
     
    »Gehen wir.«
    »Nein.«
    »Dann erfrieren wir. Ist mir aber recht. Es gibt niemanden, mit dem ich lieber erfrieren würde.«
    Es ist so dunkel geworden, dass ich ihre
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