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Wir Tiere: Roman (German Edition)

Wir Tiere: Roman (German Edition)

Titel: Wir Tiere: Roman (German Edition)
Autoren: Justin Torres
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wusste, mit welchen Tricks man Leute aufspürte, die nicht gefunden werden wollten.
    Paps nahm an, dass das alles Mannys Idee gewesen war, weil Manny der Älteste war – und weil es ja wirklich Mannys Idee gewesen war. Er wartete gar nicht erst bis zu Hause, sondern verprügelte Manny gleich da auf dem Feld, die Scheinwerfer schoben die Nacht beiseite, warfen lange, wilde Schatten auf die Bäume, der Motor tuckerte, und die Fahrertür stand weit auf, sodass das Wageninnere perfekt beleuchtet war und ich aus sechs Metern die Motten heranflattern sehen konnte und wie sie aneinanderstießen. Paps drosch Manny richtig durch; Faustschläge ins Gesicht, in den Unterleib. Manny rastete aus, heulte und brüllte immer wieder: »Mörder!«
    »Mörder!«, schrie er unseren Vater an, dabei war niemand tot. Er kam zu mir gekrochen, packte meinen Ärmel, sah mir in die Augen. »Mörder!«
    »Aber wer ist denn tot?«
    »Ich«, verkündete er. »Ich, ich bin tot! Und meine Kinder.«
    Manny sagte andauernd so verrücktes Zeug, meistens zu mir, denn Joel hatte so eine Art, sich vor Verrücktem zu verschließen, aber ich bekam nicht heraus, wie ich Mannys Worte und Schreie nicht hören konnte, wie ich wegschauen konnte.
    Später in der Nacht, wieder daheim, kurz vor Sonnenaufgang, kam also Manny in mein Bett gekrochen, weckte mich und erzählte mir, dass er von Drachen geträumt habe. Ein ganzer Himmel voller Drachen, und er hielt alle Schnüre in der Hand. Er erzählte mir, wie all die guten Drachen und die bösen durcheinandergerieten, wie er die guten festzuhalten versuchte, um den Rest davonfliegen zu lassen, doch nach einer Weile konnte er sie nicht mehr unterscheiden.
    Ich sagte kein Wort. Wir lagen auf dem Rücken, berührten uns nicht, aber ich spürte, Manny hielt sich ganz eng, jeder Muskel war angespannt. Ich dachte, vielleicht würde er weinen oder schreien. Ich dachte, er würde auf mich klettern.
    »Paps hat sich entschuldigt«, sagte Manny, »wegen der Fäuste. Er hat gesagt, er hat es mit der Angst zu tun gekriegt, dass uns was Schlimmes zugestoßen war.«
    Er drehte sich zur Seite und sah mir ins Gesicht. Ich tat so, als würde ich gähnen; ich konnte seine Augen nicht auf mir ertragen.
    »Ich hab gedacht, wir könnten abhauen«, flüsterte er. »Ich hatte mir alles ausgedacht – wie heute auf dem Feld, da war ich sicher, Gott würde sich die Drachen schnappen und uns hochheben, uns beschützen.«
    Er nahm mein Kinn und drehte mein Gesicht zu sich.
    »Aber jetzt weiß ich es«, fuhr er fort, »Gott hat all die Sauberen unter die Dreckigen gemischt. Du und ich und Joel, wir sind nichts weiter als eine Hand voll Samenkörner, die Gott in den Schlamm und Pferdemist geschleudert hat. Wir sind allein.«
    Er legte einen Arm und ein Bein um mich und blieb eine ganze Weile stumm und still; ich schlief ein. Irgendwann fing Manny wieder an, sprach mit sich selbst, schmiedete Pläne, sagte: »Also, was wir tun müssen, wir müssen eine Möglichkeit finden, die Schwerkraft umzukehren, dann fallen wir alle nach oben, durch die Wolken bis in den Himmel«, und während er das sagte, stand mir das Bild vor den Augen: meine Brüder und ich, wie wir mit den Armen rudern, aufsteigen, die Welt wird immer kleiner, wir fallen aufwärts, an den Sternen vorbei, durch Raum und schwarze Nacht, schweben hinauf, bis wir so sicher sind wie Samenkörner in der Faust Gottes.

Und keiner hat es verhindert
    A m Abend malten wir einen Kreidekreis auf die Straße und teilten den Kreis in drei Teile. Wir hatten einen blauen Gummiball, jeder stand in einem der Abschnitte und schlug den Ball mit der Handfläche, von einem zum Nächsten, und versuchte, den Ball in Schwung zu halten. Mit jedem Schlag ahmten wir unseren Paps nach.
    »Das ist für die Widerworte – «
    »Und das, weil du mich in der Öffentlichkeit vorgeführt hast – «
    »Und das für irgendwas – «
    »Und das für nichts – «
    »Und das – «
    Es gab einen Gully, der den Ball verschluckte, wenn wir ihn nicht trafen, und es gab Autos, die um die Ecke sausten und langsamer wurden, wenn sie uns sahen. Wir stellten uns dann an den Straßenrand und schauten die Fahrer böse an, wenn sie vorbeikamen. Saßen Kinder im Auto, streckten wir die Zunge raus oder reckten den Mittelfinger. Wir trugen Nylonwindjacken mit Kapuzen, die man einrollen und im Nacken mit einem Reißverschluss verstauen konnte wie einen Fallschirm. Wir hatten unseren blauen Ball und unsere Wut und den Abendhimmel, der
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