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Wir sind Heldinnen: Aus dem unglaublichen Leben der Alleinerziehenden (German Edition)

Wir sind Heldinnen: Aus dem unglaublichen Leben der Alleinerziehenden (German Edition)

Titel: Wir sind Heldinnen: Aus dem unglaublichen Leben der Alleinerziehenden (German Edition)
Autoren: Astrid Herbold
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die Spitze des Eisbergs dieses prallen Lebens. Da ist auch noch der ganze riesige Rest der Sippe. Die verwandtschaftlichen Verstrickungen der Patchwork-Großfamilie sind mittlerweile tatsächlich so komplex, dass man zur Erstellung von Stammbäumen mindestens noch eine vierte Dimension bräuchte. Deshalb wird für den Alltagsgebrauch die Definition, wer hier alles dazugehört, der Einfachheit halber relativ diffus gehalten: Die gefühlte Familie, das sind all diese Leute, die man einigermaßen oft sieht, vor allem an Geburts- und Feiertagen. Mit denen man sich ganzjährig, außer nach dem fünften Eierlikör an Heiligabend, gut versteht und denen man aus dem Urlaub eine Karte schickt. Was zwar regelmäßig in einem finanziellen und logistischen Desaster endet, weil allein die Aktualisierung des Adressverteilers im Vorfeld der Ferien zwei Wochen dauert. Von der verzweifelten Suche nach 48 verschiedenen Bildmotiven und ebenso vielen leicht variierenden Formulierungen des banalen Inhalts »Wir sind im Urlaub. Die Sonne scheint. Viele Grüße« ganz zu schweigen. Zuletzt verschlingen dann die Portokosten auch noch die ohnehin mageren Reserven des Urlaubstaschengeldes.
    Aber was sind schon kleinere Hürden, wenn man dafür eine so moderne und aufgeschlossene Familie sein Eigen nennen darf. Genetische Schnittmengen oder offizielle Einheiratungen sind für die Zugehörigkeit zum Glück nur noch Kann-Kriterien. Im Zweifelsfall zählt man sicherheitshalber auch schon die brandneue Freundin des flatterhaften Bruders zur näheren Verwandtschaft, obwohl noch niemand aus der Familie sie zu Gesicht bekommen hat und es mehr als ungewiss ist, ob die Beziehung bis zum nächsten Osteressen hält.
    Auch ansonsten hält man sich nicht länger als nötig mit kleinkarierten biologistischen Details auf, die nicht nur zarte Kindergemüter längst überfordern: Wer ist jetzt noch mal wessen Oma-Opa-Vater-Mutter-Stiefbruder-Halbschwester-Neffe-Großtante-Exfrau? Warum ist der kleine Bruder der Halbbruder der Stiefschwester? Und wie ist man eigentlich mit den aus erster Ehe stammenden Kindern des Bruders des neuen Mannes von Mamas Schwester verwandt? Wie sagt man zum Lebensgefährten der Exfrau von Mamas neuem Mann? Und zur Oma von den Kindern von Papas zweiter Frau? Wie viele Opas und Stiefopas kann man eigentlich überhaupt haben? Und zählen die Eltern der Patentante auch dazu? Vor allem aber: Welche von diesen 89 Menschen lädt man zum nächsten Kindergeburtstag ein? Das Geburtstagskind findet die Antwort einfach: »Na die, die ein Geschenk mitbringen.«
    Also alle. Toll. Das wird ein Fest. Und während Patchwork-Papi umgehend die ganze Familie per Rundmail einlädt, backt Patchwork-Mami sieben Kuchen auf einen Streich. Die restlichen 15 Kuchen lässt sie von den diversen Omis, Tanten und Schwiegermüttern mitbringen.
    Schade nur, dass die Verwandtschaft an den Rändern zu so starker personeller Fluktuation neigt. Die Freundin des Bruders des Mannes der Schwägerin zum Beispiel hat sich offenbar schon wieder getrennt und ist mit ihren zwei Kindern aus erster und ihrem einen Kind aus zweiter Ehe zurück zu ihren Eltern nach Dresden gezogen. Beziehungsweise: zu ihrer Mutter und ihrem Stiefvater. Um diesen Verlust trauert die Familie besonders, denn ihr gedeckter Apfelkuchen war der ungekrönte Star der letzten Kuchenbüffets.
    Trotzdem, es ist und bleibt ein interessantes Gefühl, mittlerweile mit der halben Nation über fünf Ecken verschwippschwägert zu sein. Wer kann das schon von sich behaupten? Mit dem Gedanken tröstet sich die Mama auch über den wettermäßig durchwachsenen, aber ansonsten natürlich wahnsinnig erlebnisintensiven Ferienhausaufenthalt hinweg. Und wer will schon so kleinlich sein und über die Enge eines 45-qm-Apartments, Straßenlage ohne Balkon, über zu alte Betten und schimmelige Duschvorhänge jammern? Wo doch eine großzügig ausgestattete Kochnische mit zwei Kochplatten, drei Töpfen und den insgesamt sechs Tellern und Tassen zum Zubereiten toller Mahlzeiten einlädt, die hinterher im harmonischen Familienverband gemeinsam vertilgt werden. Ja, selbst das Aufräumen macht hier im Urlaub mehr Spaß als zu Hause. Genauso wie das tägliche 17-fache Abspülen des extrem überschaubaren Geschirrsortiments. Für seine Lieben, die eigenen wie die angeheirateten, tut man das natürlich alles gern. Mehr noch: Selbst ihre noch ungelesenen Fachzeitschriften hat Mama schlussendlich dem Glück der Gemeinschaft geopfert.
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