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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene
Autoren: Oskar Maria Graf
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Lessings dramatische Meisterwerke, Napoleons Liebschaften und Freundinnen, Ibsens Volksfeind, Die Frau vom Meer und Viktor Scheffels Novellen. Er sprach auf eine gewisse schwäbelnde Art hochdeutsch, erzählte von einem Buch über den Kaiser Wilhelm II., das Er hieß und las mir aus Shakespeare vor. Er tat dies mit einer Glut, mit einem Antrieb, der in mir den Ehrgeiz entflammte. Ich fing an, die Bücher zu lesen. Aber Maurus geriet sthon in den ersten Wochen mit Max in Streit und warf die Sache hin. Nach einer Rauferei mit Blut, Weinen und Gebrüll packte er seinen Koffer und ging nach Bamberg. Was nun?
    Eine Kuh wurde krank. Vier Schweine krepierten. Das Pferd endete an Kolik. Der Bürgermeister lieh Max ein Buch Der Haustierarzt . Ich las es in den Nachtstunden. Langsam wachte ein reges Interesse auf. Auch überlegte ich, was ich nun eigentlich für einen Beruf ergreifen wollte. Wieder wurde eine Kuh krank. Der Herr Bezirkstierarzt kam und hielt im Stall einen Vortrag. Das war der Anstoß. Die Sache war für mich beschlossen: Ich werde Tierarzt. Die Kuh ging kaputt. »Infektion«, sagte der Herr Bezirkstierarzt. Infektion? Was ist das?
    Ich bestellte bei Parey in Berlin als erstes Buch für meine zukünftige Praxis Die Kuhseuchen . Es war ein dunkelblaues, elegantes schlankes Büchlein mit vornehmem Goldaufdruck! Also! Ich las und las. Plötzlich kam der Riß. Da stand mitten unter anderen Worten, genauso wie alle anderen: »Immun.« Ja, was heißt das? Was heißt das?
    Sofort schrieb ich um ein Tierarztfremdwörterbuch. Und nun ging es ans Auswendiglernen. Von A bis Z. Jeder Brotaustraggang war erfüllt mit lautem Hersagen der unerhört gedrechselten Wörter. Wenn zufällig der Herr Bezirkstierarzt vorbeifuhr, zog ich schon ganz gleichgestellt die Mütze und rannte klopfenden Herzens in weitem Abstand hinter dem Fuhrwerk her. Denn dieser Mann war für mich eine Art Gott, einer, der undenkbar viel Auswendiggelerntes in seinem Hirn haben mußte.
    Nach den Kuhseuchen kamen die Pferdezuchtbücher, die Hundekrankheiten und die Geflügelsorten, dann die Schafräude und endlich sogar die Fischzuchtwerke. Ehrgeizig waren wir Geschwister alle, und eine undefinierbare Sucht, über den anderen, über die Umgebung zu herrschen, trieb jeden von uns. Vor allem konnte es keiner von uns ertragen, weniger zu können als der andere. Was du gelernt hast, hast du, dachte ich, und vielleicht erstaunen deine späteren Lehrer über dich. Ich erinnere mich deutlich, als ich mit Maurus das Bücherlesen anfing. Wir lasen um die Wette, und es war für mich ein wohliges Triumphgefühl, wenn ich sagen konnte: »Ha, aber das hast du noch nicht gelesen! ... Das ist ganz was andres.« In der Zeitung standen die Semesterankündigungen der Landwirtschaftlichen Hochschule Pfarrkirchen. Ich kalkulierte: Da den Anfang und in der »Veterinär-Universität« in München den Schluß. Veterinärschule paßte mir nicht. Das war zu wenig. Es mußte irgend etwas mit Universität darin vorkommen. Auf dem Gang zu Kundschaften, vor dem Einschlafen las ich laut meine Kompendien, und es war seltsam, daß mir selbst das Nüchternste zum Pathos wurde. Eine stattliche Zahl Bücher lag droben unterm Blechdach, wohlverwahrt und in eine große Pappschachtel verpackt. Immer vor dem Schlafengehen stieg ich auf den Boden, horchte herzklopfend, ob niemand die Stiege heraufkäme, zog langsam die Schachtel heraus, strich meine Bücher glatt und suchte mir eines heraus. Nie kam es vor, daß ich einschlief, ohne vorher das teure Kleinod unter die Matratze versteckt zu haben, denn wenn so was aufgekommen wäre, hätte ich Prügel bekommen, daß ich nicht mehr hätte stehen können. Die Bücher kosteten erstens ein Heidengeld, und zweitens hatte ich seit dem mißlungenen Zitherunterricht laut Befehl einfach Bäcker zu werden. Fertig. Die Wochen schlichen hin. Es nagte, es bohrte. Ich mußte etwas sagen. Um vier Uhr früh kam Mutter die Stiege herunter, stellte in der Küche das Kaffeewasser auf. Immer wiederholte ich die gleiche Klage. Die Gesellen waren roh, verprügelten mich, weil ich öfters einschlief. Einer warf mir einmal einen Zweizentnersack auf den Kopf, daß mein ganzer Körper krachte. Nichts half. Max durfte es nicht erfahren. Meine Mutter weinte stets auf meine Lamentationen und sagte verdrossen: »Wenn bloß ein einzig's Mal Ruhe war'.«
    Aber - es mußte doch etwas geschehen! Es mußte was geschehen! »Also heut' sag' ich's dem Maxi, daß ich nach Pfarrkirchen
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