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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene
Autoren: Oskar Maria Graf
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menschlichen Charakters, es zerstörte nicht dessen ererbte, gedankenlos übernommenen Vorstellungen, es war nicht imstande, den feigen, meinungslosen Jedermann zu einem selbständig denkenden und handelnden Menschen zu machen. Auch die Kunst war etwas wie »Opium für das Volk«. Sie machte den einzelnen und ganze Völker widerstandsunfähig gegen das Sinnwidrige und Böse im Allgemeinleben, das wir in den letzten Schreckensjahrzehnten erleben mußten. Das konnte und durfte nie wieder die Aufgabe der Schriftsteller, der Künstler, der Geistigen sein! Blieben sie dabei, dann häuften sie auf die grauenhafte Mitschuld, die sie unleugbar in der Vergangenheit auf sich geladen hatten, noch unermeßlich mehr wirkliche Schuld, und das Schlimmste: Dann verläuft all ihr weiteres Mühen und Schaffen resonanzlos im blinden Nichts und bedeutet den nachfolgenden Generationen höchstenfalls noch soviel wie ein kurioses »Hobby« aus der Großvaterzeit.

    Wir sind Gefangene hatte aber auch - so wie ich es heute übersehe eine noch ganz andere, außer mir liegende Bedeutung in der damaligen deutschen Öffentlichkeit. Das Buch war ein Vorläufer all der erst kurz darauf erscheinenden, unvergeßlich starken Antikriegsromane von Remarque, Renn, Plievier, A. M. Frey usf. und leitete eine geradezu hektisch ansteigende Produktion ähnlicher Werke aller politischen Richtungen ein, die - der herrschenden Konjunktur entsprechend - für manchen Verleger ein sehr lukratives Geschäft wurden.
    Mein Buch jedoch , niedergeschrieben mit der ganzen bedenkenlosen, flackernden Subjektivität eines rebellischen Dreißigjährigen, unterschied sich von all diesen Nachfolgewerken sehr wesentlich. Es war keineswegs nur ein protestlerisches Antikriegsbuch. Es hatte sich, ohne daß ich dies ahnte oder wollte, sozusagen während des Schreibens zu einem umfassenden Dokument der höchst bewegten Zeit von 1905 bis zum Zusammenbruch der deutschen Revolution von 1918 ausgeweitet, und da sich hier einer aus der anonymen Masse nicht als überlegener Ankläger, Warner oder Mahner außerhalb seiner Gesellschaft stellte, sondern mitten in ihr verblieb und offen bekannte: »Das bin auch ich! Auch ich bin mitschuldig an der Katastrophe!«, hatte die damalige Jugend in diesem Buch ihren ungewollten Wortführer gefunden.
    Gerade das hatte Thomas Mann als erster und einziger in seiner Besprechung ungemein fein witternd erspürt. Möglicherweise gewann deswegen W ir sind Gefangene die Herzen meiner Altersgefährten und setzte in all den Jahren keinen Staub der Antiquiertheit an, denn auch heute noch bezeugen mir unzählige Briefe von Lesern aus allen Weltrichtungen, wie unverstellt und aufhellend sie in diesem Buch ihre eigene Jugend beschworen finden, und das Allereigentümlichste ist, daß seither nicht wenige Historiker dieses subjektive Bekenntnis als objektives Quellenwerk der damaligen Zeit benutzen.
    Hoffen wir also, daß diese Autobiographie auch der heutigen Jugend einiges zu sagen hat. Vor allem deshalb, weil sie aufzeigt, daß sich die damalige Jugend trotz aller Enttäuschung und Aussichtslosigkeit tapfer zu dieser ihrer Zeit bekannte und dennoch zukunftsgläubig blieb. Daß sich diese Zukunft nicht so erfüllte, wie sie es erhofft hatte, war nicht die Schuld dieser Jugend, die immer wieder ihr Leben einsetzte in den blutigen Kämpfen für diese Ziele. Um es noch einmal zu wiederholen: Daß eine ganz andere, schrecklichere Zukunft heraufkam, war und bleibt zum großen Teil die Schuld jener Geistigen, die sich, sobald die Politik notwendigerweise ins widerliche Detail gehen mußte, sofort wieder zurückzogen, um makellose Kunst zu produzieren. -

    New York, USA, im Frühjahr 1965

    OSKAR MARIA GRAF

VORBEMERKUNG

    Die nachfolgenden Aufzeichnungen umspannen die Zeit von meinem elften bis zu meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahre, beginnen 1905 und schließen Ende 1919 ab. Die Niederschrift des ersten Teiles wurde im April 1920 beendet, die des zweiten in den Jahren 1924 bis 1926 beschlossen.
    Nichts in diesen Blättern ist erfunden, beschönigt oder zugunsten einer Tendenz niedergeschrieben. Erinnerung und nochmalige Vergegenwärtigung reihten Wort an Wort. Dieses Buch soll nichts anderes sein als ein menschliches Dokument dieser Zeit.

    München, Ende Juli 1926

    OSKAR MARIA GRAF

ERSTER TEIL

    FRÜHZEIT

I
VERÄNDERTES LEBEN

    An jenem Mainachmittag, da der Lehrer plötzlich zur Türe hereinkam, auf mich und meine Schwester Anna zuging und uns sagte, wir
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