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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene
Autoren: Oskar Maria Graf
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Ebene gehoben, in der das Private und Erlebte, zur romanesken Episode verdichtet, zum Allgemeinen und Erlebbaren wird. Freimut, der die ihm gemäße Form gefunden hat; Selbst-Bewußtsein, das sich adäquat zu äußern versteht. Die Autobiographie »Wir sind Gefangene« folgt, als Klage und Anklage, Bekenntnis und politisches Kunstwerk, einer Maxime, die Goethe in einer - zu Unrecht in neueren Ausgaben unterschlagenen - Rezension über die Selbstbiographien Berliner Gelehrter formuliert hat (im April 1804 in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung veröffentlicht) : »Bescheidenheit gehört eigentlich nur für persönliche Gegenwart. In guter Gesellschaft ist es billig, daß niemand vorlaut werde, ist es notwendig, daß der Gemeinste mit dem Vortrefflichsten in einem gewissen Zustand der Gleichheit gerate. In allen freien schriftlichen Darstellungen (dagegen) gehört Wahrheit, entweder in Bezug auf den Gegenstand oder in Bezug auf das Gefühl des Darstellenden und, so Gott will, auf beides. Wer einen Schriftsteller, der sich und die Sache fühlt, nicht lesen mag, der darf überhaupt das Beste ungelesen lassen.« Ein Schriftsteller, der sich und die Sache fühlt: Ich denke, es gibt keine bessere Definition als die von Goethe vorgeschlagene für Oskar Maria Graf und seine Autobiographie. Jawohl, hier >fühlt< einer sich, aber die Art und Weise, in der er sein Fühlen beschreibt, bringt beinahe wie von selbst auch die Sache ins Spiel. Aus der Froschperspektive, von unten her: aus der Sicht eines Staunenden, der gleichwohl fest entschlossen ist, sich niemals überwältigen zu lassen, beginnt für den Leser das Vertraute, ihm aus etablierter Literatur nur allzu Bekannte fremd zu werden, zeigt sich Gewohntes in unbekannter Beleuchtung. Der in die Stadt aufgebrochene Rebell (für den gleichwohl die Verwandten vom Dorf immer >meine Leute< bleiben - sowie die Landschaft, allen in ihrem Umkreis erfahrenen Schrecken zum Trotz, beinahe so etwas wie eine bukolische Region bleibt: »Eine große schwere Stille lag über allem Land ... Aus den Bäumen sangen die Vögel, von weitem drangen verschwommene Stimmen zu mir, Grillen zirpten ... vom See herauf klang die helle Dampfschiff glocke«: das Unveränderbare naturhaften Daseins als Zone des Traums und der verwegenen Schwärmerei von einem Land, das Utopia heißt!) ... der in die Stadt aufgebrochene Rebell, isoliert und unbeholfen wie er ist in einer ihm fremden Welt (dazu die Gegenseite, nicht minder trist: »auf dem Dorf war es wie immer«), dieser plebejische Tor mit seiner Vision von einer neuen Gemeinschaft, der sich in der alten wie ein Wolf behaupten muß: er zeigt, verstört, verunsichert und auf zuverlässige Erkundung angewiesen, die Phänomene in ihrem wahren, durch keine Ideologie gefilterten Licht: den Betrieb der Literaten so gut wie das Phrasenhafte sogenannter revolutionärer Versammlungen oder das maschinelle, zu kuriosem Reglement heruntergekommene Ritual akademischer Unterweisungen.
    »Uns kann nur die Revolution retten«: Was Autoren wie Nietzsche oder Rilke von oben her beschrieben, die Verramschung der großen bürgerlichen Kultur im Zeitalter des Imperialismus, wird von Graf, in dem seinem Bekenntnis-Buch eigentümlichen Wechselspiel von ruhiger, poetisch-atmosphärischer Beschreibung und dramatischer Szenenführung von unten her erhellt. Anders nimmt sich der Anarchismus Kropotkinscher Richtung von gleich zu gleich, anders aus der Perspektive jener aus, die in ihm eine Realisierungsmöglichkeit für ihre Träume erblicken. (Grafs italienische Reise: ein - trist endender - Ausflug ins Schlaraffenland!)

    Welch ein Unterschied zwischen der Interpretation der Münchner Revolution, wie sie einer ihrer hochgestellten Sympathisanten, Rainer Maria Rilke, brieflich vortrug (überzeugt von der Unabdingbarkeit eines Neubeginns) und jener Grafschen Beschreibung der gleichen Vorgänge, in der das Gegeneinander von großem Plan und kleiner Wirklichkeit, hochfliegendem Traum und purem Possenspiel, von Sturm und Sumpf, feierlichem Begräbnis und wildem Besäufnis in den Mittelpunkt rückt.
    Wenn irgendwo, dann gewinnt bei Graf, diesem Mann des Volkes mit dem neugierig-unvoreingenommenen Blick, die Ambivalenz der Dichterrevolution von München mitsamt ihrem blutigen Ende Anschaulichkeit: beschrieben aus der Sicht eines Mannes, der, unaufgeklärt und von Position zu Position schwankend, den Aufstand wie ein pures Spektakel erlebt. »Ich lief mit, wenn alle losgingen, ich
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