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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene
Autoren: Oskar Maria Graf
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Arm. Der Mond fiel auf sein verhetztes Gesicht. »Weißt du noch? Den Kastenberger?« raunte er mir zu. Ich nickte und fragte: »Ja, was ist aus ihm geworden?«
    »Er hat auf dem Transport wieder zu toben angefangen ... Sie haben ihn erschlagen«, erzählte er. »Hm«, machte ich kopfschüttelnd und wurde eiskalt.
    »Meinen Vater haben sie im Hofbräuhauskeller erschossen ... Meine Frau hat eine Frühgeburt gehabt und ist nicht mehr recht«, keuchte er weiter und fing ein wenig zu stottern an: »Ich bin vier Jahr' im Feld gewesen ... Dreimal verwundet ... Ich hab' nie was von der Revolution wissen wollen ... Lauter lange Zeugnisse hab' ich ... Im Betrieb hat jeder ein Gewehr gekriegt ... Ich hab's am dreißigsten April wieder dort eingeliefert ... am andern Tag haben sie mich aus dem Bett geholt ... Auf dem ganzen Hinweg zur Polizei haben sie auf mich eingebaut ... Es-es gibt keinen Herrgott nicht!« Die Tränen kamen ihm, er schluckte, stockte. Er knickte zusammen und lehnte sich an meine Seite. Ich hielt ihn aufrecht. Er weinte zerstoßen. »Recht hat er gehabt, der Leviné ... Wir sind zu viel für sie ... Wir sind bloß Tote auf Urlaub, jaja ... Hätten sie mich lieber auch erschossen«, stammelte er weiter.
    Ich konnte nichts sagen, ich ließ ihn lehnen, wie er lehnte und rührte mich nicht. Er senkte den Kopf und rieb sich die Augen aus, sein Hut fiel auf den Boden. Er ließ ihn liegen. Ich streichelte ihm auf einmal etliche Male schweigend über den Kopf. Er wurde langsam ruhiger. Wir hockten da, aneinandergelehnt, in der Dunkelheit, wie zwei Übriggebliebene auf einem Stück ausgestorbener Welt.
    »So verdrossen muß man nicht sein, Kamerad ... Es ist nichts umsonst gewesen«, brachte ich nach langer Zeit heraus und stand auf: »Komm, gehn wir ...«
    Er atmete schwer und erhob sich ebenfalls. Wir gingen. Ich empfand leise, daß er nach und nach fester auftrat, daß sich sein Körper mehr und mehr straffte. Er blieb plötzlich stehen und hob die Faust, ganz seltsam, ganz ungewohnt.
    »Wenn's wieder angeht, dann kämpf ich ... Ich kämpf, bis ich hin bin ... Dann weiß ich wenigstens, es geht für uns!« rief er dumpf und grollend. Und eigentümlich getragen setzte er hinzu: »Die Stunde kommt!«
    Ich erzitterte leicht und ließ ihn nicht aus den Augen. Er wandte sich hastig an mich und drückte mir die Hand. Stumm und eilsam ging er in der Dunkelheit weiter. Ich blieb stehen, besann mich, wollte ihm rufen, ihm nach und schritt heimwärts. Immer heißer wurde mein Herz. Alle Bilder sah ich wieder, die sich in meine Gedanken geprägt hatten: Die Massen der Straßen, das Arbeiterheer, die düsteren Züge der Verhafteten, die Leichen der Erschossenen und diesen einen Kameraden. Und alles wurde noch schärfer und noch unauslöschlicher. Und dieser eine Mann mit der erhobenen Faust wurde Legion. »Die Stunde kommt!« jubelte ich unwillkürlich. »Es ist nichts umsonst gewesen!« wiederholte ich ergriffen.
    Mein winziger Kreis zerbarst. Ich war mehr, als bloß »Ich«. Ein großes Glück durchströmte mich.

    *

    Aus vielen Erschütterungen waren halbe und ganze Erkenntnisse geworden. Die Furchtbarkeiten lagen Jahre zurück.
    Als Handwerksbursche wanderte ich einmal durch die Dünen am Meer. Nacht war es. Plötzlich fing's zu regnen an, zu donnern, zu blitzen. Und das nahe Meer grollte. Kein Baum, kein Licht. Finsternis, nichts als Finsternis und Regen, Regen, Regen, Geheul, Blitzen, Donnern. Immer furchtbarer, grausamer. Rasender Sturmwind. Peitschender Regen.
    Regen, der mich auf einmal hinwarf wie ein hilfloses Blatt. Tief in den Schlamm preßte und auf meinen zitternden Körper niedersauste mit einer Gewalt, wie ich sie nie wieder erlebte. Regen, der mich erbarmungslos begrub. Lebendig, gänzlich wehrlos, verlassen. Und die bebende Erde, der krachende Himmel, die brennende Luft, der rasende Wind! Und das Meer zischte, heulte, türmte sich hochauf und fiel klatschend nieder. Ich schrie, brüllte, weinte. Es krachte, bebte, surrte, zischte, peitschte. Da streckte ich mich ohnmächtig aus und preßte willenlos meine Hände betend ineinander, schrie, schrie: »Gott!« Dann verlor ich die Besinnung.
    Als ich aufwachte, war es still. Wie ein schwebender Flor lag die Luft ringsum. Ich arbeitete mich aus dem Kot und sah in die strahlende Helle.
Und brach ins Knie.
    Vollkommen erschöpft kam ich nach langem Marsch in einer kleinen Stadt an. Etliche Mark hatte ich noch. In einem kleinen Wirtshaus blieb ich über Nacht.
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