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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene
Autoren: Oskar Maria Graf
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Kindheit mit anderen Gefühlen gegenüber. Kein Lichtpunkt, kein Sonnenstrahl, nichts von behaglichem Heim«:
    Die Eingangs-Sätze der Autobiographie Adelheid Popps (heute vergessen und verschollen, obwohl sie, in der ersten Auflage, von keinem Geringerem als August Bebel eingeleitet wurde) ... diese Sätze könnten als Motto vor jener »Frühzeit« stehen, der Graf später einen zweiten Teil »Schritt für Schritt« hinzugefügt hat. Beide Partien zusammen ergeben die hier vorliegende, 1927 zum ersten Mal publizierte Autobiographie »Wir sind Gefangene« ... ein Buch, das, der Wirklichkeit entsprechend, mit den Stereotypen der plebejischen Selbstbeschreibung beginnt: Das Elendslos der Mutter, die Schreckensherrschaft des älteren Bruders, der bei Graf die Funktion des Vaters übernommen hat (des plebejischen chef de famille , dessen Zahltag-Weg von der Fabrik über das Wirtshaus bis hin nach Hause in einer Fülle von dramatischen Szenen dargestellt wurde), das Sich-Einfügen in eine in Hoch und Nieder zerteilte Gesellschaftsordnung, deren Strukturen der Erzähler (auch in diesem Punkt mit anderen Autobiographen seiner Klasse übereinstimmend) in einem Bereich zu durchschauen beginnt, der die Trennung von oben und unten auf den Begriff bringt - dem Militär.
    »Wir sind Gefangene«: Das ist, so betrachtet, zunächst einmal Autobiographie eines Deklassierten, deren Topologie Familienleben, dörfliche Feste, erste Lektüre, Aufbruch in die Stadt - stellvertretend für viele andere steht. Zugleich aber präsentiert sich ein Buch, das in Sujet, Komposition und Darbietungsform unverwechselbar ist: der Roman eines Erzählers, dem der Kunstgriff gelingt, auf fünfhundert Seiten nur von sich selbst zu sprechen und dennoch so etwas wie eine comedie humaine zu entwickeln, bevölkert von einem Personal, das, in toto zwei Etagen tiefer als bei Balzac angesiedelt, in seiner Vielfalt einen Vergleich mit dem Figuren-Arsenal des französischen Romanciers sehr wohl besteht: Bäckergesellen und Revoluzzer, Putzmädchen und Anarchisten, Poeten und Dirnen, Professoren und Unteroffiziere, Irre und Schieber, Namenlose und - von Franz Jung bis Max Weber, von Eisner bis Rilke - Personen der Zeitgeschichte.
    So ehrgeizlos der Ansatz des an der Grenze von Roman und Memoiren angesiedelten Buchs ist - Selbstbeschreibung in szenischer Form, dialogisch aktualisierter Bericht über Privaterlebnisse und Privatgedanken - so reich ist seine Ernte: Das Geständnis eines Einzelnen, der zugleich als Subjekt und als Objekt des Berichts fungiert, gewinnt den Charakter eines Gerichtsspruchs; die Beichte wird zur Anklage. Vom Ende her, dem Bekenntnis zur Solidarität mit den Opfern, wird deutlich, warum das Leben des Oskar Maria Graf des Plebejers und Bohemiens, Salondichters, Hilfsarbeiters, Anarchisten und Tolstojaners, ein verfehltes Leben war: Weil hier ein Einzelner sich dem Diktat einer Gesellschaftsordnung unterwerfen mußte, die dem Individuum Glück nur auf Kosten anderer Individuen gewährte und Selbstverwirklichung allein dem Skrupellosen, dem zum Existenzkampf entschlossenen Sozialdarwinisten verbürgte - womit dann das humane Ziel des bürgerlichen Lebenslaufs, die Identitätsfindung im Sinne einer Übereinstimmung von persönlicher Erfüllung und allgemeiner Wohlfahrt, seines Weltbezugs beraubt und das Ego als letzte Instanz deklariert wurde.
    Unter diesen Aspekten beschreibt die Autobiographie »Wir sind Gefangene« am Beispiel des »handlungstragenden Helden« (wie Thomas Mann, in einer von großem Respekt bestimmten Rezension das erzählte Ich dieses Romans genannt hat) eine gesellschaftliche Situation, in der es für den Plebejer, sofern er sich nicht solidarisch verhält, nur zweierlei Formen der Entfremdung gibt: sich entweder mit Millionen von anderen prügeln zu lassen oder, die Fronten wechselnd, selber zum Prügler zu werden. Grafs Bekenntnis will vom Schluß her, vom fünfundzwanzigsten Kapitel des zweiten Teils, an dessen Ende der Titel des Buchs erklärt wird, und vom Epilog her gelesen sein. Dann nämlich zeigt es sich plötzlich, daß dieses Buch keineswegs nur aus reißerisch erzählten Episoden besteht, sondern im Gegenteil, einem sehr exakt durchgeführten Kompositionsschema folgt: Vorgeführt wird der Versuch eines Menschen, ganz er selbst zu sein - ein Versuch, der den Protagonisten deshalb ständig in neue Gettos führt, weil er die wahren Gründe seiner Gefangenschaft nicht durchschaut und für individuelles Versagen
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