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Wir sind Gefangene

Wir sind Gefangene

Titel: Wir sind Gefangene
Autoren: Oskar Maria Graf
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Nußstangen und Marzipanstücke standen abends da. Um zehn Uhr konnte ich zu Bett gehen; um zwölf Uhr weckte mich der Geselle zur Nachtarbeit. Wie im Traum, mit dumpfem Kopf fuhr ich mit den nackten Armen in den Teig und walkte ihn. Wenn ich einschlief, gab es Stöße und Prügel. So ging es jede Nacht. Um sechs Uhr früh stampfte ich mit dem gefüllten Brotkorb durch die schneeige Dunkelheit und brachte das Brot in die entfernten Dörfer. Gegen Mittag kam ich heim, vollkommen durchnäßt. Ich aß, zog mich um und mußte wieder mit Max Christbaumgebäck herstellen. So haspelten sich die Wochen ab. Einmal in der Nacht sank ich einschlafend in den Teig. Der Geselle fiel über mich her, schlug mich mit seinen knochigen Fäusten. Ich riß die Arme aus dem Teig und rannte heulend zu Max hinauf, um mich zu beklagen. Vom Schlaf aufgeschreckt, stürzte dieser aus dem Bett und schlug blindlings auf mich ein, daß ich entsetzt wieder hinunterrannte und weinend weiterarbeitete.
    »Gell, der zeigt dir die Sache!« höhnte der Geselle und puffte bei der geringsten Gelegenheit weiter auf mich ein, daß ich wie ein Tier blind und verbissen weiterwalkte. So kann es dir nirgends gehen, dachte ich jede Nacht und sann auf einen Ausweg.
    Am Weihnachtstag selber ruhte die Arbeit. Der Geselle fuhr in die Stadt. Punsch gab es in der Stube, und jeder bekam ein kleines Geschenk. Und schlafen konnte man die ganze Nacht.
    Nach Neujahr endlich hörten die Christbaumfeiern auf. In der Konditorei gab es nicht mehr so viel zu tun. Die Tagarbeit wurde weniger. Ich mußte nun mit Max jeden Nachmittag zum Holzfällen in den Wald. Es lag überall tiefer Schnee, auf Boden und Bäumen. Max sprach wenig, aber er stieg auf die Bäume und sägte dicke Äste ab. Bei solcher Gelegenheit machte es ihm großen Spaß, wenn mir der ganze Schnee vom geschüttelten Baum hinauffiel. Er lachte dann mitunter ein wenig, wenn ich mich schlotternd schüttelte.
    Ende Februar kam Maurus von Bamberg. Er übernahm nun die wenigen Konditoreiarbeiten, und ich mußte ihm helfen. Max wich ihm aus irgendeinem Grunde aus. Die beiden sprachen wenig miteinander. So hatte ich den ganzen Tag einen anderen Vorgesetzten. Wir verstanden uns anfangs gut. Maurus erzählte mir wieder von Büchern, von der Fremde und ließ sich sogar manchmal herab, mit mir Dummheiten zu machen. Ich schloß mich ihm enger an.
    War Max aus dem Haus, so arbeiteten wir hastiger, machten eilig alles fertig, setzten uns auf die Backstubenbank, und Maurus begann mir den Heinrich IV. vorzulesen. Aber ich begriff diese Verse nur schwer, trotzdem er mir den Witz oft ziemlich drastisch und deutlich ausmalte und mich zeitweilig ermunterte. Um nicht Prügel zu bekommen, lachte ich oft gewaltsam, was ihn sehr freute. Die Nachtarbeit war jetzt wenig. Der andere Geselle, welcher sehr mürrisch gewesen war, ging. Er hatte zu viel Brot gestohlen. Ein alter, grauer Gehilfe war aus der Stadt gekommen, der die meiste Zeit betrunken war. Aber er buk gutes Brot, und weil er mich sehr selten anrührte, ging ich ihm gut zur Hand. Er nannte mich jeden Tag anders und trieb allerhand Spaße mit mir. Wenn er einen Rausch hatte, begann er alte Reservistenlieder zu singen. Oft lag er in der Ofengrube und grölte, als spräche er einem Pferd gut zu: »E-e-eha! E-eha!... Langsam Vogel, ganz langsam!« Dann half ich ihm auf, und er küßte mich, sein rußiges Gesicht zeichnete sich auf meinen Wangen ab, und wankend stand er da und rief laut und heiser: »Hier steh' ich! ... Major Vogel! General Vogel! Ritter hoher Orden! Inhaber des Max-Rindvieh-Ordens! Hoch! Hoch! Hoch!« Das Haus erdröhnte davon. Er umschlang mich gerührt und dankte mir, weil ich so gut zu ihm war. »Oskarl« oder »Siegfriedl« oder »Aloisl« sagte er stets: »Ich vergeß' dich nie! Du bist ein braver Bursch!« Und das berührte mich menschlich. Ich arbeitete alsdann wie ein Wilder und tat alles, was ich für Vogel nur tun konnte.
    Es waren schöne Nächte. Während der Vesper- und Gärpausen schnarchte der Geselle auf der Bank, und ich las Indianergeschichten und Reisebeschreibungen und weckte ihn, wenn es Zeit war. So gegen vier Uhr, wenn die Mutter kam, waren wir meistens fertig. Die Magd kam herunter und besorgte die Stallarbeit. Wir tranken Kaffee, und um sechs Uhr mußte ich mit Anna fort zum Brotaustragen. Dieses Beisammensein auf der freien Landstraße war unsere schönste Zeit. Auf dem Heimweg erzählten wir uns erfundene Geschichten, in denen wir, die
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