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Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Titel: Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit
Autoren: Tanja Langer
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gefehlt.)
    Henriette schnitt Scheiben vom Brot ab und teilte den Käse in Stücke. Heinrich sah ihr zu.
     
    Am Anfang der Fahrt war er angespannt gewesen; er hatte unbequem steif auf der Kante des Sitzes gesessen; seine Hände verschwitzt, sein Nacken verkrampft, bis zu den Ohren hinauf zog sich der Schmerz. Er hatte Angst, Henriette könnte es sich im letzten Moment überlegen. Leben wollen, ohne ihn. Ohne sie würde er es nicht tun. Das wusste er. Sie hatte es sich so sehr gewünscht, und doch befiel ihn jetzt ein Heer von Zweifeln, während sie Berlin durchquerten und verließen. Erst als er sah, wie unverändert freudig Henriette neben ihm im ruckelnden Gefährt saß, wie fest sie ihn ansah, entschlossen und schön, zerstreuten sie sich, diese nagenden, wirren Zweifel. Er schloss die Augen, lehnte sich zurück. Ade, all die halbtoten Bewohner dieser kalten Stadt, die ihn nicht wollten, nicht seine Sätze, nicht seine Hellsicht! Wie sie umhergingen mit ihren eingefrorenen Gesichtern, erstarrten Gesten zermürbten Muts! Ade, Prunkbauten, die hohnzulachen schienen angesichts der verlorenenSouveränität des Landes, gebeugt von einem wild gewordenen, vom Größenwahn getriebenen Franzosen. Den ganzen Sommer hatte er innerlich geweint, das Schöne der Stadt wohl sehend, zugleich nichts anderes fühlend als Schmerz und Scham, ein klaffender Zustand, unerträglich, unausstehlich, hassenswert, dass ihm die Augen brannten. Endlich war er auf dem Weg, dies alles zu verlassen.
     
    Früher, wenn er gereist war, wie einfach war es gewesen! Wie leicht! Dieses Früher überhaupt! Kaum unterwegs, ob zu Fuß, ob zu Pferde, ob in der Kutsche, fielen alle hinderlichen Gedanken und Sorgen von ihm ab. Er musste nur laufen oder reiten, oder den gleichmäßigen Rhythmus der Räder auf dem Sand oder den unebenen Feldwegen spüren, das Klackern der Pferdehufe hören, und alles fiel von ihm ab, er lachte, er streckte sich, und wenig später traten ihm seine Figuren vor Augen, Sätze kamen, Worte murmelte er vor sich hin, die er später aufschreiben würde. Manchmal holte er Zettel und Bleistift aus der Tasche und notierte Wendungen, skizzierte Verläufe einer Handlung. Auch ohne es aufzuschreiben, genügte es, dass er sich zurücklehnte und alles vor sich entwickelte, den Ablauf einer Erzählung, das ABC eines Dramas – er dachte im Voraus, plante, was er später zu Papier bringen würde. Welche Möglichkeiten der Verstrickung gab es, was würde daraus folgen, für welche würde er sich entscheiden? Es war wie Kopfrechnen, es machte ihm Spaß. Während seine Mitreisenden plapperten und über das jammerten, was sie zurückließen oder das, was sie erwartete, oder sich freuten, früher, noch vorden Schlachten und Fluchten, war er schon eingetaucht in eine andere Welt. Deshalb hatte er die längste Reise in einer Kutsche, die er jemals unternommen hatte, ebenso wenig beschwerlich gefunden wie die Zeit, die dann folgte, im Gefängnis, in Frankreich, im Gegenteil, sie schien ihm jetzt als die glücklichste Zeit seines Lebens. Während seine Freunde Gauvain und Ehrenberg immerfort stöhnten und sich plagten, hatte er eine befreiende, große Erleichterung empfunden. Es war egal, wohin ihn die Kutsche brachte; Hauptsache, er konnte dort schreiben, Hauptsache, er musste sich um nichts kümmern, kein Geld und keine Zwangsarbeit in irgendeiner blöden Verwaltung. Er hatte keine Angst. Die Franzosen hatten sie nicht gehenkt, als sie die drei Männer kurz vor Berlin aufgegriffen und festgenommen hatten; sie würden sie nicht auf einen langen, kostspieligen Transport nach Frankreich schicken, wenn sie sie nur umbringen wollten. Schreiben kann ich dort ebenso gut wie in Weimar oder Dresden, hatte er sich immer wieder vorgestellt, wie auch immer dieses Dort aussehen würde. Zuerst hatte ihnen niemand gesagt, wohin die Reise gehen würde; doch nach einigen Tagen hatte er es vom sie begleitenden Offizier in Erfahrung gebracht: Besançon, hieß es, und von dort nach Pontarlier, zum Fort de Joux, dem besten, am strengsten befestigten Gefängnis des Landes. Das für Staatsfeinde und für die wichtigsten Kriegsgefangenen. Fort de Joux war Heinrich durchaus ein Begriff: Dort, das wusste er, hatten sie auch den Sklavenanführer Toussaint l’Ouverture aus Santo Domingo hingebracht, aus Haiti, Napoleon persönlich hatte dafür gesorgt. Heinrich hatte davon gehört, er kannte das Gedicht, das derenglische Poet Wordsworth über ihn geschrieben hatte und das man
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