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Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit

Titel: Wir sehn uns wieder in der Ewigkeit
Autoren: Tanja Langer
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über die Augen gelegt, Schmerzen waren den Rücken hinaufgekrochen und hatten im Kopf gedröhnt, von seiner verstörten Verdauung einmal abgesehen, an die er sich fast schon gewöhnt hatte.
    Jetzt, auf dieser Fahrt, stellte sich auch keine Lösung ein, selbstverständlich, es gab womöglich gar keine Lösung, und das war das Schlimmste, es musste ausgehaltenwerden, dass es keine gab, und er hatte es nun für dieses Leben – aufgegeben. Obwohl es ihn in den letzten Wochen gequält hatte, dass darin auch eine Art Flucht lag, hatte ihn immer häufiger ein Hochgefühl gepackt, seit er mit Henriette seinen Plan entworfen hatte. Immer wieder befiel ihn seitdem wie auch in diesem Augenblick eine übermütige Vorfreude, überraschend und rein. Er war glücklich. Er war einer entsetzlichen Ohnmacht entronnen, seit er zusammen mit Henriette den Entschluss gefasst hatte, das Leben in die Hand zu nehmen und selbst darüber zu bestimmen.
    Er buchstabierte durch, ob er an alles gedacht hatte. Das Wichtigste war die Waffe; zur Sicherheit hatte er drei Pistolen eingepackt, man konnte nie wissen, die Feuchtigkeit, ein dummer Zufall, der Mechanismus. Nicht daran zu denken, wie Hartmann ihn angesehen hatte, der Freund, mit dem er in seiner Jugend musiziert hatte, und der vor Jahren versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Er hatte so gezittert, dass er mit der Hand von der Schläfe abgerutscht war; die Kugel war losgegangen und hatte ihn gestreift – doch nicht getötet. Der liebe Schlotheim, wie sie ihn genannt hatten, weil er so weich und schreckhaft gewesen war, hatte vor Schreck den Mut verloren, die Pistole ein zweites Mal anzusetzen. Heinrich hatte ihn sofort besucht, als er davon hörte, er sah jetzt wieder das scheußlich entstellte Gesicht seines Freundes und seine jammervollen Augen vor sich, doch dann verschwamm es ihm. Er konnte sich wieder nicht konzentrieren, wieder fing diese Unruhe an, Bilder, Stimmen, Satzfetzen schossen ihm durch den Kopf. Es war, als sprängen Figuren aus seinem Gedächtnisnach vorn, an die er lange nicht gedacht hatte, die er nicht zu fassen bekam, die ihn bedrängten, ohne deutlich zu werden, er hörte wieder das entsetzliche Fiepen in den Ohren, das ihn seit diesem Sommer immer wieder gequält hatte, er wollte, dass es aufhörte. Er sah unzählige Soldaten und Schlachtfelder; seinen ersten Vorgesetzten in der Kadettenanstalt, als er mit fünfzehn Jahren dorthin gekommen war; er sah Begebenheiten, an die er sich nicht erinnern wollte. Die keifenden Stimmen der Schwestern in Frankfurt hämmerten dazwischen, ihre Forderungen, Beschimpfungen, er trinke, er saufe, er stinke, er sei faul, er ziehe den Namen der Familie in den Schmutz, und wie sie da saßen und schmatzten und knurpselten und schluckten, ihre gierigen Münder, verzerrt von einem grässlichen Hunger, den keine Suppe, kein Braten, kein Kuchen würde stillen können, eine tiefe, grauenhafte Gier, in diesen Geräuschen, diesem Kauen Schlürfen Schlotzen. Ekelerregend und unappetitlich, dabei taten sie immer so, als wüssten sie genau, was Anstand und Manieren erfordern. Ihm wurde jetzt noch schlecht davon. Vier Wochen war es nun her, doch er sah es wie gerade eben, er konnte ihnen in den Schlund sehen, die Lücken zwischen ihren Zähnen, die schwarzen Zähne neben den gesunden, alle einzeln, alle gestochen scharf, der ewig hungrige Schlund, der keine Liebe gekannt, keine Gedanken, nichts als das Geld das Auskommen die Ehre den Schein. Wie ungerecht du bist, Heinrich, schrien sie, jaja, schrie er zurück, außer sich, ihr lest Bücher, ihr seid interessiert, aber ihr mutet mir ein Elend zu ohne Anteilnahme und ohne zu ahnen, was es heißt zu schreiben. Ulrike ausgenommen, doch Ulrike ist jetztvon euch Monstern infiziert – und er sah in diesem Augenblick, auch sie hatte einen unbeantworteten Lebenswillen, angesteckt wie mit den Pocken, so wucherten jetzt die schäbigen Worte aus ihrem Mund, den er geliebt hatte, wirklich geliebt, und sie war nur noch die hässliche, verknitterte alte Amphibie, kalt ihre Augen, schmal ihre Lippen, nein, Heinrich, dieses Mal nicht, ich tu dir keinen Gefallen, du musst jetzt einmal begreifen, sieh zu, wie du zurechtkommst, du magst dich zum Gespött machen, ich will es nicht. Was die Leute sagen, –
     
    Heinrich, was ist mit dir?
    Heinrich schreckt hoch. Wo ist er? Was war geschehen?
     
    Vor sich sieht er Henriettes freundliches Gesicht; die hellblauen Augen mit den dunklen langen Wimpern, fragend sieht
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