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Wir schaffen es gemeinsam

Wir schaffen es gemeinsam

Titel: Wir schaffen es gemeinsam
Autoren: Berte Bratt
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hat. Bevor ich herkam, mußte ich einem zwanzigjährigen jungen Mädchen eröffnen, daß es zuckerkrank sei. Ja, Sie würden sicher zufrieden mit mir gewesen sein, Wibke… ich fürchte, ich bin zu wenig Arzt und viel zu sehr Mensch gewesen.“
    Es war schwer, darauf etwas zu erwidern. Yvonne fragte schließlich: „Kann man nie wieder gesund werden, wenn man zuckerkrank ist?“
    „Nein. Nie. Man kann nur die Krankheit in Schach halten. Das mußte ich ihr auch sagen. Wenn Sie wüßten, wie das ist – einem jungen, lebensfrohen Menschen das zu sagen. Man kommt sich dann völlig machtlos vor. Da kommt ein Patient, voller Zutrauen zur ärztlichen Wissenschaft, zu mir herauf und bittet mich, ihn gesund zu machen. Und dann kann ich es gar nicht. Keiner kann es! In solchen Augenblicken ist es einem zumute, als habe man keinerlei Existenzberechtigung. Wenn sie dann wenigstens geweint und geschrien hätte – ich weiß ja so genau, wie man mit hysterischen Patienten umgehen muß. Aber wenn ein junges Mädchen so etwas hört und dann nur ganz still und beherrscht ist, dann ist es fast nicht zu ertragen. Sie trocknete sich nur die Tränen, das war alles.“
    Steneng sprach leise.
    Es war, als rede er mit sich selber und habe ganz vergessen, daß Yvonne und ich daneben saßen.
    „Und das Schlimmste von allem: Als sie ihr Taschentuch wieder in ihre Handtasche zurückstecken wollte, fand sie eine Tüte. Sie nahm sie heraus und legte sie auf meinen Tisch. Sie brachte ein kleines Lächeln zustande, und dann sagte sie tatsächlich:,Es ist besser, wenn ich die gleich wegtue. Gebrannte Mandeln sind immer meine Schwäche gewesen, aber jetzt werde ich mich wohl für immer davon trennen müssen!’ Wissen Sie, Wibke, solche Augenblicke vergißt man nie. Das kleine, beherrschte Gesichtchen und die zerknautschte Tüte mit den gebrannten Mandeln werde ich so schnell nicht vergessen können.“
    Wie seltsam war es, Dr. Steneng so zu sehen. Den kalten, zornigen Arzt, der damals so über meinen Kaktusdorn geschimpft hatte. Den wütenden jungen Mann, der mich am liebsten übers Knie gelegt hätte, weil ich Geld damit verdiente, daß ich andere Leute hungern ließ. Den munteren und gemütlichen Kameraden, mit dem ich am Tage vorher zu Mittag gegessen hatte.
    „Glauben Sie“ – jetzt war ich es, die nach einer Pause diese Frage an ihn richtete – , „glauben Sie, daß es Ihnen immer so schmerzlich sein wird, solch einen Richterspruch zu fällen? Glauben Sie nicht, daß man sich als älterer, erfahrener Arzt allmählich daran gewöhnt?“
    „Nein, ich hoffe und bete, daß das nie der Fall sein möge. Ich wünschte, das bliebe mir erhalten, daß ich mich immer mit meinen Kranken zusammen freuen und mit ihnen zusammen leiden kann. Wenn man wirklich helfen soll, muß man den Leiden der andern gegenüber immer hellhörig sein! Man muß die Fähigkeit haben, sich in die Gefühle anderer hineinzuversetzen. Das sollte nach meiner Ansicht ein Arzt besser können als irgendein anderer Mensch. Vergessen Sie nicht, das Leben eines Arztes ist ja dem Helfen geweiht. Und Gott bewahre mich davor, daß meine Arbeit jemals zum reinen Handwerk wird. Sie waren einmal ärgerlich auf mich, Wibke, weil ich Ihnen kalt und gefühllos befahl, das Arbeiten zu unterlassen. Glauben Sie etwa, daß Sie mir nicht leid taten? Glauben Sie nicht, daß ich ganz genau wußte, wie wichtig Ihre Arbeit für Sie war? Und glauben Sie nicht, daß Sie mir innig leid taten, als ich Sie mit Ihrem Arm ins Krankenhaus schicken mußte? Aber man bessert eine Sache nicht immer, indem man dem Kranken zeigt, was man fühlt. Und Sie kennen ja meine Einstellung zu der Frage Arzt und Mensch – wenn ich auch bereit bin zuzugeben, daß es immer schwieriger wird, den Menschen in mir zu unterdrücken. Heute war es jedenfalls ganz unmöglich.“ Dann verstummte er plötzlich und trank seine Tasse aus. Yvonne stand auf, um neuen Kaffee zu holen. Als sie sich umgedreht hatte, hob Dr. Steneng den Kopf und sah mich an. Er lächelte. Reichte mir die Hand quer über den Tisch.
    Ich gab ihm die meine, ohne zu zögern. Erhielt einen raschen, festen Händedruck. „Ich danke Ihnen“, sagte er leise.
    Wofür er sich bedankte, das verstand ich beim besten Willen nicht. Aber du großer Gott, wie gern hatte ich den Mann!
    Dann kam Yvonne mit dem Kaffee, und Dr. Steneng fragte uns, ob wir den Pasteurfilm gesehen hätten. Das konnten wir bejahen, und dann unterhielten wir uns begeistert über die Einzelheiten
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