Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik
Autoren: Marina Weisband
Vom Netzwerk:
antisemitischer Hassmails? Ich habe das heute auf Echo Moskau gelesen! Das ist ja schrecklich! Ist das wirklich wahr?«
    »Naajaaaa«, erwidere ich und klemme mir das Telefon unters Kinn, weil ich mich auf ein längeres Gespräch vorbereite. »Im Prinzip schon. Ich bin bloß nicht zurückgetreten. Ich habe nur nicht für eine zweite Amtszeit kandidiert. Und es waren auch nicht Tausende von Mails, sondern nur ungefähr acht. Und die hatten eigentlich auch nichts mit der Entscheidung zu tun.«
    »Wie, das verstehe ich nicht. Aber das stand doch in der Zeitung?«, fragt die arme Frau verwirrt.
    »Nee. In der Zeitung stand zuerst, dass ich nicht mehr vorhabe zu kandidieren. Das war im Februar. Aber seitdem haben die das schon wieder vergessen. Und irgendwie ist daraus ein Rücktritt geworden. Du weißt ja, wie das ist. Wenn bei uns ein Politiker niest, ist er vier Zeitungsartikel später todkrank. Und im fünften steht schon sein Nachfolger fest.«
    »Ja, und die E-Mails?«, fragt sie, noch immer etwas ängstlich.
    »Die kamen sowieso viel später und eigentlich sind die mir schnuppe. Ich wurde bloß mal von der Jüdischen Allgemeinen gefragt, ob ich Antisemitismus begegnet bin. Da hab ich dann drauf geantwortet. Und von da wurde es irgendwie zum Thema.«
    »Und wie sind daraus Tausende geworden?«
    »Das muss dann wohl auf der Strecke nach Russland passiert sein«, rate ich.
    »Hm, vermutlich.«
    Ich will gar nichts Schlechtes über die Presse sagen. Ganz im Gegenteil. Ich bin begeistert von der Freundlichkeitund Fairness der deutschen Journalisten. Gerade im internationalen Vergleich und auch nach einem Blick hinter die Kulissen kommt mir der deutsche Journalismus sehr sauber vor. Wir haben alles in allem eine gute, unabhängige Presse. Trotzdem sind Absurditäten allgegenwärtig. Wenn es mehr Berichte über die (fehlende) Unterwäsche von Stars gibt als über einen größeren Hungerstreik vor dem Brandenburger Tor zum Beispiel. 4
    Der Fehler liegt hier nicht bei den einzelnen Journalisten, sondern im System. Um etwas so Erstaunliches zu erzeugen wie eine freie Presse, braucht es schon ein komplexes Zusammenspiel aus Nachfrage, Wettbewerb und dynamischen Gruppenprozessen. Wie gesagt, unsere Presse ist nicht schlecht, aber verbesserungswürdig im Hinblick auf die Ziele, die wir uns als Gesellschaft setzen.
    Die Nachrichten, die Talk- und Realityshows, das gmx-Portal, die Süddeutsche und diverse Hochglanzjournale sind zwar unsere Schule für Erwachsene. Im Gegensatz zu staatlichen Bildungsstätten gibt es hier allerdings keinen festgeschriebenen Lehrplan. Die freie Presse bestimmt ihre Inhalte selbst. Das ist gut so und, in Verbindung mit dem Wettbewerb unterschiedlicher Verlage und Sender, ein sehr wichtiges Merkmal eines freien Rechtsstaats. So wird Unabhängigkeit gewährleistet. Was letztlich thematisiert wird und was nicht, bestimmen verschiedeneFaktoren, die sich auch nach dem Selbstverständnis des Mediums richten. Manche Zeitschriften wollen unterhalten, manche Zeitungen wollen vor allem aufklären und informieren. Manche filtern stärker nach objektivierbaren Relevanzkriterien, manche nach anderen Gesichtspunkten. Eines haben beinahe alle Medien auf dem freien Markt gemeinsam: Sie erstellen den Inhalt hauptsächlich danach, ob er Sie, den Leser, interessiert. Ob es in Quoten, Klicks oder Auflagen gemessen wird, die Medienwelt ist durch und durch darauf abgestimmt, zu interessieren und zu gefallen. Und eigentlich wäre darin auch nichts Schlimmes. Ist doch gut, wenn man nicht gelangweilt wird, sondern das Spannendste mundgerecht vermittelt bekommt.
    Aber stellen Sie sich mal für einen Moment eine Schule vor, die nach diesem Prinzip funktioniert. Die Lehrer sind ständig bemüht, herauszufinden, wofür sich die Schüler gerade interessieren, und liefern ihnen genau diese Inhalte. Im Musikunterricht werden nur Songs von Justin Bieber gesungen. In Englisch geht es nur um die amerikanischen Wahlen und die Lächerlichkeit der republikanischen Kandidaten. Im Geschichtsunterricht werden nur die besonderen Knüller behandelt. Die Französische Revolution, mit all den rollenden Köpfen. Die Kreuzzüge. Die Reformation oder die Aufklärung werden ausgelassen. So absurd diese Vorstellung erscheinen mag, es ist die Lebensrealität von Erwachsenen. Denn es ist zwar allgemein bekannt, dass der Mensch lernt, solange er lebt, praktische Konsequenzen haben wir daraus aber bisher nicht sonderlich viele gezogen.Ich sprach einmal
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher