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Wir nennen es Politik

Wir nennen es Politik

Titel: Wir nennen es Politik
Autoren: Marina Weisband
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Kinder auf dem Arm. Es ist traurig, aber es funktioniert. Wahlprogramme sprechen von Freiheit. Freiheit wovon? Freiheit zu was? Und am wichtigsten, Freiheit für wen? Das ist selten definiert.
    »Das Problem bei euch Piraten ist, dass ihr euch nicht klar in der Öffentlichkeit äußert. Ihr lasst jeden vor die Kamera und am Ende ist man total verwirrt«, sagt mein Mitbewohner mir irgendwann beim Frühstück. Ich widerspreche: »Zu unseren Positionen sagen wir ja alle dasselbe. Da, wo wir offene Debatten haben, benennen wir sie auch als Debatte. Die sollten ja stattfinden in einer Demokratie. Wir können doch nicht allen den Mund verbieten. Wenn man verbindliche Aussagen will, ist es eh am besten, das Wahlprogramm zu lesen.« »Ich lese ehrlich gesagt Wahlprogramme nicht. Ich richte mich eher nach den Plakaten und dem, was man so hört.« Er studiert. Er hätte Zeit und Gelegenheit, sich zu informieren. Aber Politik belastet eben. Es ist alles so kompliziert, dass es sich gar nicht erst lohnt, sich einzuarbeiten. Dabei fördert schon die oberflächlichste Auseinandersetzung mit den politischen Sachverhalten viele Vereinfachungen zutage, die uns täglich aufgetischt werden. So viele »Lügen für Kinder« – wie Terry Pratchett sie nannte.
    Wir erklären Kindern die Welt so, dass sie sich ein Bild machen können. So genau müssen Kinder es nicht wissen, denn wir entscheiden ohnehin für sie. Gefährlich wird es aber, wenn jemand anfängt, Entscheidungen für eigentlich mündige Erwachsene zu treffen und sie zu Zwecken des eigenen Machterhalts zu entmündigen. Dies geschieht ständig, wenn auch nicht aus böser Absicht. Es ist ganz einfach. Redet man mit Erwachsenen wie mit Kindern, dann werden sie irgendwie auch wie Kinder denken. Sie nehmen Information unreflektierter hin und stimmen implizit ihrer eigenen Entmündigung zu. Wahlplakate zeigen sehr gut, wie leicht wir auf einfache Botschaften eingehen, das eigentliche Problem findet aber woanders statt.
    Bei den Anschlägen am 11. September 2001 war ich gerade dreizehn Jahre alt. Während vorher lange niemand über »die Christen« oder »den Islam« geredet hatte, sprach plötzlich alle Welt von »dem Islam« und »der westlichen Welt«. Meine Generation ist groß geworden mit dem Bild eines bärtigen, bedrohlichen Muslims mit erhobenem Zeigefinger. Und seitdem kann sich kein Mann mit dunklerer Haut in einen Zug setzen und seine Tasche auf den Schoß nehmen, ohne dass irgendein Mitreisender sich bei dem Gedanken erwischt, dass eine Bombe darin sein könnte. Wir sind mit einer diffusen Angst vor »Terror« aufgewachsen, den gleichzeitig niemand von uns wirklich erlebt hat. Mit dieser Angst ging aber eine weit gefährlichere Sache einher – das »Wir und sie«. Wir, die westliche Welt. Sie, die Terroristen. Sie, die Muslime. Und plötzlich waren wieder Vorurteile erlaubt, wie sie seit sechzig Jahren inBezug auf Juden mühsam bekämpft wurden. Man hat unsere Angst missbraucht, um eine ganze Reihe von Gesetzen zu verabschieden, die angeblich vor Terrorismus schützen sollten, in Wirklichkeit aber nur die Freiheit aller Bürger beschnitten. Erzeuge Angst, aus der Angst heraus stimmen Menschen den irrsinnigsten Einschnitten in ihr Leben und ihre Privatsphäre zu.
    Es ist psychologisch völlig natürlich, zwischen Ingroup und Outgroup zu unterscheiden, also »wir und sie«. Und dennoch bringt es unsere Gesellschaft nicht weiter. Nicht, solange man Probleme auf eine Outgroup zurückführt, anstatt sie wirklich zu lösen. Nicht, solange man keinen Frieden hinbekommt, weil man »den Feind« dämonisiert. Und da wir Menschen eigentlich ganz gut darin sind, unsere natürlichen ersten Reflexe mit Hilfe unseres Verstandes zu überwinden, sollten wir in der Lage sein, den Mechanismus der Angst zu durchschauen und zu durchbrechen.
    Warum schreibe ich das alles? Der gesamte Diskurs um Transparenz, liquide Demokratie und Offenheit der Politik geht von der Kernidee aus, dass Menschen den Mut haben sollten, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Jedes Mehr an Beteiligung birgt nicht nur riesige Chancen, sondern auch eine Gefahr. Nämlich die Gefahr des Populismus. Wenn Menschen sich von den oberflächlichsten Instinkten lenken lassen, wie beispielsweise Angst, treffen sie irrationale Entscheidungen. Deshalb habe ich irgendwann auf einer Pressekonferenz zur Eurokrise gesagt: »Nehmen Sie sich in Acht vor einfachen Antworten.« Wir kennen einfache Antworten. Arbeitslosigkeit? Daran
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