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Wir haben keine Angst

Wir haben keine Angst

Titel: Wir haben keine Angst
Autoren: Pauer Nina
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hohem Bogen, sondern sang- und klanglos einfach zu verschwinden, weil wir plötzlich einfach nicht mehr gefallen. Und deshalb schlagartig abrutschen, hinabschliddern, uns an nichts und niemanden mehr halten können, dass wir frei fallen, nach unten, bis nach draußen, über den Rand hinaus. Dorthin, wo die Grenze von den Coolen zu den Uncoolen, von den Straighten zu den Herumkrebsenden, von den Selbstverwirklichern zu den Selbstverfehlern, von den Glücklichen zu den Resignierten, von den Gebrauchten zu den Überflüssigen verläuft. Dort, wo all die gelandet sind, die auf dem Markt der unendlichen Möglichkeiten irgendwann nicht mehr mitgekommen sind. Dort, wo die Aussortierten ihr Dasein fristen. Die Rausgewählten. Die, die es nicht in den Recall geschafft haben. Die, bei denen die Kamera nur noch von dramatischer Musik untermalt den Rücken beim Abgang filmt, bevor das Bild schlagartig abbricht. Weil alle wissen, dass man sich den Namen dieses krassen Losers, der da nach Hause fährt, auch nur eine Sekunde länger merken müsste.
    *
    Anna starrt auf das Bücherregal. Herr G. sitzt ihr gegenüber auf einem Sessel vor seiner Bibliothek. Er blickt an ihr vorbei aus dem Fenster. Er wartet auf Annas Antwort. Aber Anna schweigt. Sie tastet lieber die Büchertitel auf der Höhe von Herrn G.’s Schultern mit den Augen ab. »Lexikon der Psychologie«. »Das erschöpfte Selbst«. »Und Nietzsche weinte«. »Das Wunder der Achtsamkeit«. »Psychotherapie: Eine erotische Beziehung«.
    Anna hat keine erotische, sondern noch gar keine Beziehung zu Herrn G. Der Therapeut, zu dem auch die Tochter der besten Freundin ihrer Mutter geht und deren Empfehlung sie gefolgt ist, ist ihr noch etwas suspekt. In penetrant buddhistischer Ruhe schaut dieser Mensch aus dem Fenster auf die bunt strahlenden Kastanienbäume des Berliner oder Hamburger Herbstes, unter denen die Prenzlauer Berger oder Sternschanzianer ihren Kaffee im Freien trinken. Vielleicht stehen die Bäume, auf die Anna schaut, auch in Köln, München oder Frankfurt. Eigentlich egal, jedenfalls scheint es, als würde Herr G. es mühelos fertigbringen, auf ihre Antwort zu warten, bis alle Blätter und alle Kastanien am Boden liegen und man den Atem der Cafébesucher in der Schneeluft des Winters sehen kann.
    Ob sich das nebulöse, unter der Oberfläche nervös vor sich hinbrodelnde Gefühl, das sie zu ihm geführt hat, irgendwie mit Worten beschreiben lässt, hatte er von Anna wissen wollen. Anna seufzt. Eigentlich hat sie überhaupt keine Zeit für diesen Psychokram. Eigentlich hat sie gerade total viel zu tun. Sie denkt an alle verpassten Anrufe, die ihr seit zehn Minuten lautlos in ihrer Tasche liegendes iPhone mittlerweile gesammelt haben dürfte. Sie hält diese Stille hier drinnen nicht aus. Anna hibbelt mit den Füßen.
    »Das habe ich doch gerade eben schon gesagt«, sagt sie klar und verständlich. »Mir wird alles zu viel. Der Druck macht mich einfach fertig.«
    Herr G. wendet sich Anna zu. Von irgendwo ganz weit weg scheint er zu ihr in den Raum zurückzukommen. Er schaut seine neue Patientin offen an. »Sie sind jetzt siebenundzwanzig Jahre alt, stimmt das?«
    Anna nickt.
    Herr G. lächelt. Die Falten um seine Augen sehen unfassbar freundlich aus. Schüchtern versucht Anna zurückzulächeln. Das Lächeln wird schräg. Sie fühlt sich nicht wie eine siebenundzwanzigjährige Frau, sondern wie ein kleines Mädchen. Sie zuckt mit den Schultern. »Ich bin eben einfach furchtbar gestresst.«
    *
    Bastian ist einer derjenigen, die sich bei unserer Show beim Casting aus Angst vorm Scheitern noch nicht einmal trauen, zum Vorsingen anzutreten. Natürlich sieht er das komplett anders. Er ist einfach noch nicht so weit, meint er. Er muss noch ein bisschen an seinem Song feilen, die Lyrics stehen, aber der Beat sollte noch mal neu gemischt werden. Er will sich Zeit nehmen, sagt er. Bis der Sound perfekt ist. Darunter geht nichts, vorher stellt sich Bastian auf keine Bühne und macht sich zum Volldeppen. Er bleibt deshalb einfach sitzen, wenn er aufgerufen wird. Stoisch, selbstbewusst und scheinbar tiefenentspannt winkt er ab. »Next time«, sagt er lässig.
    Mit Angst hat das für ihn nichts zu tun. Es geht eben um nichts Geringeres als seinen ganz eigenen Stil. Es geht um Perfektion.
    Noch bekommt Bastian jede Runde wieder eine neue Nummer zugeteilt. Weil er der Praktikantin, die die Castings mitorganisiert, so überzeugend schwören kann, dass er beim nächsten Mal auf jeden
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