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Wir haben keine Angst

Wir haben keine Angst

Titel: Wir haben keine Angst
Autoren: Pauer Nina
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wir jetzt sitzen, den wir uns so hart erkämpft haben, überhaupt der ist, den wir wollen.
    Ständig fragt zum Beispiel Anna sich, ob und wie lange es sich wirklich noch lohnt, jeden Tag wieder die Nazi-Chefin mit PMS , die hintenrum hyänenartigen Kolleginnen und die dumme Praktikantin in diesem Irrenhaus von Agentur zu ertragen. Das Irrenhaus, in dem alle scheißfreundlich, total locker und nett und hip, aber eigentlich komplett fake sind. Sogar die wenigen Normalen in dem Laden haben sich dem kalten Klima mittlerweile angepasst. Alle spielen sie nur eine kranke Rolle und, das Schlimmste, alle wissen es. Alle wissen, dass sie eigentlich nur gucken, wo sie selber bleiben. Dass sich ihr Smalltalk schon lange nicht mehr von eiskalt-funktionalem Socializer-Kalkül unterscheiden lässt. Dass jeder jeden beäugt, dessen Beliebtheitspunkte zählt und sie mit seinen eigenen vergleicht.
    Anna kotzt das an. Genauso sehr wie ihr Talent, selber so unglaublich gut mitzuspielen in diesem Zirkus. So gut, dass man von außen denken könnte, sie wäre wirklich eine von denen.
    »Es ist nur eine Lebenslaufstation. Es ist nur eine Lebenslaufstation«, lautet Annas Vorläufigkeitsmantra, das ihr in den endlosen Meetings, Briefings, Präsentationen und Projektbesprechungen hilft, die Balance zwischen intakter äußerer Präsenz und genervter innerer Emigration zu halten und zu entscheiden, ob sie in diesem Office nicht eigentlich doch gerade ihre Zeit verplempert. Ob sie nicht eigentlich schon wo ganz anders sein müsste. Selbst an den guten Tagen ist Anna innerlich schon auf dem Sprung. Sobald sie etwas erreicht hat, denkt sie schon an die nächste Hürde.
    Um bloß nicht das Umsteigen zur nächsten, anderen, richtigen Station zu verpassen. Um im Voraus die richtigen Strategien auf ihrem Weg zu wählen und ihre Ellenbogen auszufahren, die sie benötigen wird, um sich zu erkämpfen, was ihr bei ihrem Können und ihrem Einsatz zusteht. Bevor ihr jemand anders ihren zukünftigen Schreibtisch wegnimmt. Anstehen tun dafür schließlich genug andere.
    Nicht nur Anna, sondern wir alle wissen es: Im perfekten Job wartet niemand auf uns. Trotz Studium, Praktika, Auslandssemester und Vitamin B können wir uns nie sicher sein. Weshalb wir immer und einwandfrei funktionieren müssen, weshalb wir genau jetzt alles geben müssen. Weshalb wir nichts dem Zufall überlassen dürfen, sondern uns haargenau überlegen müssen, welche Wegbiegungen wir einschlagen. Um uns eines Tages die eine Stelle, die perfekt zu uns passt,
die wir sind
, genau im richtigen Moment schnappen zu können. Sonst ist sie besetzt. Und wir hätten alles verpasst. Nicht nur einen coolen Schreibtischstuhl, sondern vor allem uns selber. Wir wären auf ganzer Linie gescheitert. Weil wir uns selbst verfehlt hätten. Weil wir die einzig richtige Version unserer selbst nie gelebt hätten.
    Was für eine Horrorvorstellung. Wenn Anna nur daran denkt, kriegt sie schon Herzrasen. Es fühlt sich für sie an wie der absolute Kontrollverlust. Alles scheint zu wackeln, der Boden bricht ihr unter den Füßen weg. Weil auf einmal alles, was sie gerade macht und tut, komplett in Frage gestellt ist. Weil das Jetzt, in dem sie sich befindet, vielleicht falsch ist. Weil sie vielleicht gerade in diesem Moment ein anderes, besseres Jetzt verpasst. Und sich damit den Weg zum richtigen Später schon verbaut hat.
    Anna hebt den Blick von der Kleenex-Schachtel auf dem Fensterbrett, auf die sie während ihres gesamten Redeschwalls gestarrt hat. Sie schiebt eine Haarsträhne, die ihr von ihrem schrägen Pony ins Gesicht gefallen ist, hinters Ohr zurück. Herr G. nickt verständnisvoll.
    »Ich kann mir vorstellen, gemeinsam mit Ihnen an Ihrer Angst zu arbeiten«, sagt der Therapeut freundlich, er deutet auf die Uhr. Anna hat die Sitzung überzogen. So etwas passiert ihr sonst nie.
    »Wenn Sie mögen, sehen wir uns nächste Woche.« Herr G. lächelt milde. Sein Händedruck ist angenehm.
    Draußen unter den Kastanien schaut Anna in den Regen. Langsam fischt sie ihr iPhone aus ihrem mit bunten Vögeln bestickten lila Jutebeutel. Nur zwei verpasste Anrufe, zwei SMS , drei E-Mails. Geistesabwesend entwirrt sie die Schnur ihrer Kopfhörer. Angst, hat Herr G. gesagt. Anna versucht den Satz im Kopf. »Ich habe Angst.« Fünf Probestunden können nicht schaden, denkt sie und biegt um die Ecke zur S-Bahn-Station.
    *
    Bastian klebt die Motivationssperre an den Hacken wie ein zweiter Schatten. Wir, die wir ein bisschen
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