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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen
Autoren: Carsten Jensen
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streiken die Augen und bekommen diesen vollkommen leeren Blick.
    Wir gaben ihnen Brot und Tee. Sie machten den Eindruck, als bräuchten sie etwas Warmes. Wir benahmen uns ihnen gegenüber anständig, obwohl wir nicht behaupten konnten, dass sie willkommen waren.
     
    Gegen elf Uhr vormittags liefen die beiden deutschen Dampfer auf Grund, als sie versuchten, sich durch die südliche Fahrrinne zu manövrieren. Englische Bomber hatten die Insel in den letzten Tagen mehrfach überflogen, und wir sahen sie häufig draußen über dem Meer. Nun tauchten zwei von ihnen auf. Sie feuerten ihre Raketen ab, und sofort brach auf beiden Dampfern Feuer aus. Am Bug und achtern waren Maschinengewehre installiert, und die Deutschen beantworteten den Beschuss. Die englischen Flugzeuge griffen weiterhin an. Einer der Dampfer erhielt mehrere Treffer und stand bald vollständig in Flammen.
    Erst als die Schießerei aufhörte, wagten wir, uns den Schiffen zu nähern, um den Überlebenden zu Hilfe zu kommen. Das Wasser war voller Menschen, viele von ihnen wiesen Brandwunden auf oder waren durch Splitter verletzt. Sie schrien und jammerten, wenn wir sie an Bord zogen, aber wir konnte sie doch nicht in dem kalten Wasser liegen lassen. Es war ein schrecklicher Anblick. Ihre Haare waren versengt, sie waren schwarz vor Ruß, und am blutigen Fleisch ließ sich erkennen, wo die Haut verbrannt war. Viele von ihnen trugen nicht einmal Kleider. Wir hatten Decken mitgenommen. Aber es war sinnlos, sie den frierenden armen Teufeln umzulegen, die Wolle blieb an dem blutigen Fleisch kleben. Wir wagten kaum, sie anzufassen, als wir ihnen am Kai an Land halfen.
    Die Toten ließen wir im Wasser liegen, die Überlebenden waren wichtiger.
    Die Verletzten wurden ins Krankenhaus von Ærøskøbing gefahren, die anderen in dem Haus einquartiert, das wir «die Loge» nannten, oben in der Vestergade. Dann begannen wir, die Toten zu bergen. Es waren ziemlich viele. Wir betteten sie auf den Kai an der Dampskibsbro, direkt am Eingang des Hafens. Zwanzig Leichen brachten wir an Land. Sie lagen in einer langen Reihe, mit Decken bedeckt. Einem der Toten fehlte der Kopf, und in gewisser Weise war es diese Leiche, die uns die geringste Angst einjagte. Denn hier gab es kein Gesicht, in das
wir schauen mussten, keine Augen, die wir zu schließen hatten, keinen offen stehenden Mund, aufgerissen zu einem stummen Schrei, der ihm ins Grab folgen würde.
    Am Hafen hatten sich inzwischen einige hundert Menschen versammelt, um sich die brennenden Dampfer anzusehen. Einer war nahezu ausgebrannt, aber noch immer qualmte es gewaltig. Der andere brannte mittschiffs. An Bord befand sich eine Gruppe betrunkener deutscher Soldaten, die auf dem Vordeck mit einigen halb entkleideten Frauen herumschäkerten. Todesangst und Schnaps hatten sie alle Hemmungen verlieren lassen.
    Am späten Nachmittag kehrten die Engländer zurück und nahmen den Beschuss der beiden Dampfer wieder auf. Inzwischen war der Hafen schwarz von Menschen. Wir waren alle gekommen, um das traurige Ereignis mitzuverfolgen, das sich draußen auf dem Wasser abspielte. Viele von uns hatten in diesem Krieg Ehemänner, Brüder und Söhne verloren, und der Gedanke hätte nahegelegen, dass nun die Deutschen bekamen, was sie verdienten. Aber so dachten wir nicht. Unzählige Male waren wir, unsere Väter oder Großväter an Bord von Schiffen gewesen, die untergingen oder ausbrannten – wir wussten, wie so etwas war. Ein sinkendes Schiff ist ein sinkendes Schiff. Es ist vollkommen egal, wen es trifft.
    In der südlichen Fahrrinne tauchte ein Schlepper auf. Wir waren so mit den brennenden Dampfern beschäftigt, dass wir ihn gar nicht bemerkt hatten. Die Stelle ist schwierig für jemanden, der das Fahrwasser nicht kennt, aber der Schiffsführer kam sehr gut zurecht, bis einer der Engländer tief über das Boot hinwegflog und seine Raketen abfeuerte. Es folgte eine Explosion, die bis an Land zu hören war. Das Schiff hatte einen Treffer abbekommen und stand sofort in Flammen.
     
    Gunnar Jakobsen, der mit seiner Gig draußen war, sagte später immer, dass er wohl selten eine buntscheckigere Versammlung gesehen habe. Neger und Chinesen waren dabei, sogar ein Mann im Rollstuhl. Der wurde über Bord gekippt, bevor die anderen sprangen. Er hatte weder Arme noch Beine, hielt sich aber mit Hilfe einer Schwimmweste über Wasser. Auch eine Frau mit einem Kind tauchte im Wasser auf. Es war die halbe Welt, die dort herumschwamm. Umso größer
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