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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen
Autoren: Carsten Jensen
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fast stolperten wir über sie, und genau so sollte es sein. Unser ganzes Leben lang hatte es immer mehr Tote gegeben, Ertrunkene, Verschwundene – und jahrhundertelang hatten sie alle nicht begraben werden können. Sie hatten sich ferngehalten, sogar vom Friedhof; und sie hatten unser Leben mit unstillbarer Sehnsucht aufgezehrt. Nun erhoben sie sich und fassten uns an den Händen. Wir tanzten und tanzten in einem großen Kreis, und mittendrin saß Herman und prostete uns mit einer bereits halbleeren Whiskyflasche zu, nicht mehr zitternd vor Kälte, sondern mit vor Trunkenheit rot glühenden Wangen. Er sang mit einer Stimme, die heiser war von Anstrengung, Suff und Bosheit, von Ungeduld, Gier und verzehrter Lebenslust.
    «Shave him and bash him,
Duck him und splash him,
Torture him and smash him
And don’t let him go!»
    Mit dabei waren ein schwarzer Mann, ein Chinese, ein Eskimo, ein Kind, das wir nicht kannten; mit dabei waren Kristian Stærk und Henry Levinsen mit der schiefen Nase; mit dabei waren Doktor Kroman, Helmer und Marie, die gelernt hatte, die Hand zur Faust zu ballen, aber noch nicht wusste, dass sie an diesem Tag Witwe geworden war. Das musste Vilhjelm ihr mitteilen. Mit dabei waren Vilhjelms Vater und Mutter, beide taub, aber mit einem Lächeln auf den Lippen; mit dabei waren die Witwen Boye, Johanne, Ellen und Emma, die an diesem Abend nicht zögerten, sondern uns bei der Hand nahmen und mittanzten; mit dabei war ihr entfernter Verwandter Kapitän Daniel Boye; und dann kam Klara Friis die Havnegade entlanggelaufen und brach in den Kreis ein, bis sie Knud Erik fand. Und er nickte ihr zu, und der kleine Junge, dessen Namen wir nicht kannten, ging auf sie zu und sagte: «Großmutter» – wir sind überzeugt, dass Knud Erik es ihm beigebracht hatte.

    Und das Kind nahm ihre Hand und zog sie mit in den Tanz, und unser Tanz war wie ein Baum, der wuchs und wuchs. Ständig kamen weitere Jahresringe hinzu.
    Teodor Bager war mit dabei und hielt wie immer die Hand auf das Herz gepresst; mit dabei war Henning, einst der hübscheste Kerl auf der Hydra mit seinem hellen Haar und der Stirnlocke, die Knud Erik geerbt hatte; mit dabei war die unermüdliche Anna Egidia und ihre sieben toten Kinder – sie schlossen sich der noch lebenden Tochter in unserem Tanz an. Mit dabei war Pastor Abildgaard, der vor seinem Tod noch eine ländliche Pfarrstelle gefunden hatte, in die er besser passte als zu uns. Er sah uns durch seine Stahlbrille an und machte unter seinem Pastorenornat einen unsicheren Schritt. Nun folgte Albert mit Raureif im Bart und dem Kopf von James Cook unter dem Arm, dann kam Lorentz, schnaufend und mühsam, doch vom Tanz konnte ihn niemand abhalten; Hans Jørgen, der mit der Mageløs unterging, Niels Peter und sogar Isager tauchten auf; seine dicke Gattin hielt den wiedergefundenen Karo unter dem Arm. Seine Söhne Johan und Josef mit der Negerhand, und hinter ihnen kamen Bauern-Sofus, dann Lille Clausen, Ejnar und Kresten, der arme Kerl mit dem ewig nässenden Loch in der Wange; Laurids baute sich in seinen schweren Seestiefeln auf, und hinter ihm erschienen weitere, und dann, ganz am Schluss – Anton. Er lächelte mit tabakgelben Zähnen in dem verkohlten Gesicht. Es folgten die Besatzungen der Astræa und der Hydra, der Freden, der H. B. Lindemann, der Uranus, der Svalen, der Smart, der Star, der Kronen, der Laura, der Frem, der Saturn, der Ami, der Danmark, der Eliezer, der Felix, der Gertrud, der Industri, der Harriet und der Erindring, all die Ertrunkenen. Und dort im äußersten Kreis, mit halb im Nebel der Ungewissheit verborgenen Gesichtern, tanzten all jene, die auf fremden Schiffen gefahren und in den fünf Jahren, die der Krieg gedauert hatte, verschwunden waren.
    So viele von ihnen waren tot. Ihre genaue Zahl kannten wir nicht.
    Morgen würden wir sie zählen. Und in den folgenden Jahren würden wir um sie trauern, so wie wir es immer getan hatten.
    Aber an diesem Abend tanzten wir mit den Ertrunkenen – und sie und wir waren eins.

QUELLEN
    W ir Ertrunkenen ist Fiktion. Zu dem Roman inspiriert hat mich die Geschichte Marstals in den Jahren 1848 bis 1945, der das Buch in groben Zügen folgt. Ich habe die traditionellen Familiennamen der Stadt verwendet, die Karten allerdings neu gemischt, so dass jede Ähnlichkeit mit noch lebenden oder verstorbenen Personen rein zufällig ist.
     
    Der Roman basiert auf Recherchen in den Archiven von Marstals Seefahrtsmuseum und den zahlreichen
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