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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen
Autoren: Carsten Jensen
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war Gunnars
Überraschung, als er sie an Bord hievte und sowohl der Schwarze wie der Chinese anfingen, Dänisch zu reden, während der Rest Marstaler Dialekt sprach.
    «Ist das nicht Gunnar Jakobsen?», fragte einer von ihnen.
    Gunnar Jakobsen kniff die Augen zusammen, nicht weil er kurzsichtig war, sondern weil er erst einmal nachdenken musste.
    «Der Teufel hol mich», sagte er schließlich, «wenn das nicht Knud Erik Friis ist.»
    Dann erkannte er Helge Fabricius und Vilhjelm. Der Mann ohne Arme und Beine sagte nichts, und auch keiner der anderen stellte ihn vor.
    «Anton», sagte Knud Erik plötzlich und sah sich verwirrt um, «wo ist Anton?»
    «Meinst du den Schrecken von Marstal?», fragte Gunnar Jakobsen. Sie sahen sich um.
    «Er ist nicht da», stellte Vilhjelm fest.
    Im Wasser war er auch nicht. Die Odysseus begann sich bereits auf die Seite zu legen, die Flammen schlugen meterhoch in die Luft. Niemand konnte sich noch auf dem Schiff aufhalten und am Leben sein.
    Sie fuhren eine Weile im Kreis, während sie nach Anton riefen.
    Wieder und wieder griffen die Flieger die Dampfer an, als hätten sie ein Lager von Raketen und Bomben, das es zu leeren galt, bevor der Krieg zu Ende war.
    In Gunnar Jakobsens Gig wollten sie gerade aufgeben und Kurs auf den Hafen nehmen, als die Odysseus noch einen Volltreffer erhielt. Diesmal schien das Schiff unter der Wasserlinie getroffen zu sein, denn der Schlepper holte sofort über und begann zu sinken. Gunnar Jakobsen erstarrte bei diesem Anblick. Er stellte den Motor ab, als wäre er der Ansicht, dass der Schlepper während seines Todeskampfs eine Schweigeminute verdient hätte. Sie sahen, dass dort, wo das Schiff verschwunden war, irgendetwas auf dem Wasser schwamm. Gunnar Jakobsen startete den Motor und steuerte die Stelle an. Zunächst konnten sie nicht erkennen, was es war. Dann wurde ihnen klar, dass es sich um die fürchterlich verbrannten Reste eines Menschen handelte. Sie sahen einen Rücken und einen Kopf. Anton war nackt und hatte kein Haar mehr auf dem Kopf. Die Schwimmweste konnten sie nicht erkennen, und wenn noch etwas davon übrig war, so wussten sie nicht auszumachen, was zu
ihm und was zu der Weste gehörte. Sein Rücken war schwarz und sah aus wie Holzkohle.
    Sophie hielt Bluetooth die Hand über die Augen. Knud Erik griff mit den Händen ins Wasser, um die verkohlte Leiche in die Gig zu holen. Er dachte nicht darüber nach, was er tat. Er konnte ihn doch nicht einfach so liegen lassen. Doch in dem Moment, in dem er den Körper aus dem Wasser ziehen wollte, löste sich ein Arm. Erschrocken ließ Knud Erik los, und als die Leiche zurück ins Wasser glitt, sah es aus, als würde sich all das, was einmal Fleisch an Antons Körper gewesen war, von den Knochen trennen und sofort in der Tiefe verschwinden.
     
    Der Motor tuckerte heftig.
    Gunnar Jakobsen wollte so schnell wie möglich an Land.
    Niemand von den Geretteten der Odysseus sprach ein Wort. Sie hatten den gleichen Ausdruck in den Augen, den Gunnar Jakobsen bei den deutschen Kindern gesehen hatte und den er bei seinen eigenen Kindern niemals sehen wollte. Er wusste nicht viel mehr über den Krieg als das, was in den Zeitungen stand. Er hatte es im Süden dröhnen hören, wenn die Engländer ihre Bombenangriffe flogen, und am Horizont aufflammen sehen, als es Hamburg und Kiel traf. Nun lernte er plötzlich mehr als in den fünf Jahren zuvor, und in den folgenden Monaten hatte er jedes Mal das gleiche Gefühl, wenn er einen Menschen traf, der den Krieg außerhalb von Dänemark erlebt hatte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihnen, er konnte sich nur nicht erklären, was es war. Es hatte nichts zu tun mit dem, was sie sagten, denn sie sagten nichts, beinahe so, als würden sie alle ein großes Geheimnis hüten, das sie aber nur bewahrten, weil es ohnehin nichts änderte, anderen davon zu erzählen. Sie bildeten eine verschworene Gemeinschaft, in die kein anderer eindringen konnte und der sie selbst nicht entkamen.
    Der Junge weinte. Er hatte nichts gesehen, aber er ahnte, was geschehen war.
    «Sehen wir Anton jetzt nie wieder?», fragte er.
    «Nein», antwortete die Frau, von der Gunnar Jakobsen annahm, dass es sich um die Mutter des Kindes handelte. «Anton ist tot. Er kommt nicht zurück.»
    Das war ziemlich brutal, fand Gunnar Jakobsen, mit seinen eigenen
Kindern hätte er nie so geradeheraus gesprochen. Und doch akzeptierte er im Grunde die direkte Antwort der Frau. Kriegskindern sagte man die
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