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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen
Autoren: Carsten Jensen
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jemand?»
    Laurids hörte die Worte. Sein Gehör war zurückgekehrt.
    «Wir müssen die Verwundeten an Deck bringen! Wir ersticken hier unten!»
    «Ich hole Hilfe!», brüllte Laurids.
    Auf Deck fand er keinen der Offiziere, die zuvor mit Tritten und den flachen Seiten ihrer Säbelklingen auf die Besatzung losgegangen waren. Er bemerkte einen Auflauf an der Fallreepspforte und lief dorthin. Die Evakuierung war bereits in vollem Gang. Sein Blick fiel auf einige
Leutnants, die mit gezogenen Säbeln kämpften, um die Pforte zu erreichen. Der erste Offizier des Schiffs, Kapitän Krieger, stand daneben und betrachtete alles mit einem merkwürdig abwesenden Blick. Unter dem Arm trug er in einem vergoldeten Rahmen das Porträt seiner Frau. Sein Fernrohr hatte er sich über den Rücken gehängt. Als Laurids näher kam, hörte er ihn wieder und wieder dieselben Sätze sagen, wobei er den Arm zu einem Gruß hob, als wollte er diesen verzweifelten Haufen vor sich segnen.
    «Ihr habt euch als brave Männer erwiesen, ihr habt eure Pflicht getan, ihr seid alle meine Brüder.»
    Niemand nahm Notiz von ihm. Alle hatten den Blick auf den Rücken ihres Vordermanns gerichtet, dem wichtigsten Hindernis auf dem Weg zur rettenden Fallreepspforte.
    Laurids kämpfte sich bis dicht an den Kapitän heran und schrie ihm ins Gesicht: «Die Verwundeten, Kapitän Krieger, die Verwundeten!»
    Der Kapitän drehte sich zu ihm um. Sein Blick war noch immer gleich fern. Er legte eine Hand auf Laurids’ Schulter, der spürte, wie sie zitterte, die Stimme des Kapitäns jedoch war ruhig, fast schläfrig.
    «Mein Bruder, wenn du an Land kommst, musst du mich besuchen, und wir werden uns unterhalten wie Brüder.»
    «Den Verwundeten muss geholfen werden!», brüllte Laurids noch einmal. «Das ganze Schiff fliegt bald in die Luft!»
    Die Hand des Kapitäns ruhte noch immer auf Laurids’ Schulter.
    «Ja, die Verwundeten», sagte er in dem gleichen unverändert ruhigen Tonfall, «die Verwundeten sind meine Brüder. Wenn sie an Land sind, werden wir allesamt wie Brüder miteinander sprechen.»
    Seine Stimme erstarb in einem Murmeln. Dann begann er seine Epistel aufs Neue.
    «Ihr habt euch als brave Männer erwiesen. Ihr habt eure Pflicht getan. Ihr seid alle meine Brüder.»
    Laurids ließ ihn stehen und wandte sich einer Gruppe von Männern zu, die sich verbissen kämpfend zur Fallreepspforte vorarbeiteten. Er packte einen von ihnen an der Schulter, dann einen anderen, drehte sie um und schrie seine Botschaft heraus, dass man dringend den Verwundeten helfen müsse. Der Erste reagierte, indem er Laurids mit der Faust aufs Kinn schlug. Der Nächste schüttelte verständnislos den Kopf und
riss sich los, um sich mit frischer Energie in den Kampf um die Fallreepspforte zu stürzen.
     
    Unterdessen verlief die Evakuierung jetzt zügiger. Fischerboote stießen vom Ufer in See, um der Besatzung des Kriegsschiffs zu Hilfe zu kommen, das sie noch ein paar Stunden zuvor beschossen hatte. Die Schaluppe des Kapitäns segelte ununterbrochen zwischen Schiff und Strand hin und her. Laurids lehnte sich über die Reling und sah, wie das Feuer aus den achtersten Stückpforten prasselte. In diesem Moment wusste er, dass es nicht mehr lange dauern konnte.
    Rauch stand in allen Luken. Das Atmen auf Deck fiel ebenso schwer wie unter Deck. Noch einmal lief er die Leiter zum Lazarett hinunter, doch den Plan, hier durchzukommen, musste er aufgeben. So dicht und erstickend war der Rauch inzwischen, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass dort unten noch irgendjemand am Leben war.
    «Ist hier jemand?», brüllte er, erhielt aber keine Antwort.
    Der Qualm brannte ihm in den Lungen. Er bekam einen Hustenanfall, die Tränen liefen ihm über die Wangen. Dann rannte er zurück auf Deck. Er kniff die brennenden Augen vor Schmerz zusammen und war einen Moment lang blind. Er rutschte auf den von menschlichen Absonderungen und zerfetzten Organen verschmierten Planken aus. Seine Hand steckte in etwas Blutigem, Feuchtem, und sofort kam er wieder auf die Beine, wobei er seine Handfläche entsetzt an der bereits besudelten Hose abwischte. Er ertrug den Gedanken nicht, dass seine Hand das Blut und die Eingeweide eines anderen Menschen berührt haben sollte. Er hatte das Gefühl, ihm würde die Seele verbrannt.
    Er taumelte an die Reling, wo der Rauch nicht ganz so dicht war, und versuchte, sein Sehvermögen wiederzuerlangen. In einem Schleier aus Tränen sah er, wie die Schaluppe auf einer
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