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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen
Autoren: Carsten Jensen
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konstatierte, dass das intensive Bombardement der Batterien vom nördlichen und südlichen Ufer keine großen Schäden angerichtet hatte. Die Schlacht dauerte nun schon über sechs Stunden, und es gab keinerlei Aussicht auf Sieg. Ein Rückzug war indes unmöglich, das war
nicht schwer zu erkennen. Die Dampfer Hekla und Geiser waren außer Gefecht, und der Wind kam uns direkt entgegen. Kapitän Paludan beschloss daher, die Parlamentärsflagge zu hissen. Noch war es keine Kapitulation, nur eine Pause in der Schlacht.
    Ein Leutnant wurde mit einem Brief an Land gerudert und kam umgehend mit dem Bescheid zurück, dass innerhalb einer Stunde mit einer Antwort gerechnet werden könne. Das Marssegel und das unterste Rahsegel wurden aufgegeit, die Mannschaft bekam Brot und Bier. Noch herrschte Ordnung an Deck, und obwohl alle taub vom Lärm der Kanonen waren, dachte niemand an Kapitulation. Allenfalls verspürten wir eine unbestimmte Unruhe über den Stand der Schlacht. Die Männer sahen, dass es um die Gefion übel stand, aber das blutige Chaos auf unserem Deck hätte ihnen niemand beschreiben können.
     
    Laurids saß mit seinem Brot abseits, er war damit beschäftigt, seinen Hunger zu stillen. Noch kannte er sein Schicksal nicht.
    Unterdessen waren Tausende von Menschen aus Eckernförde herbeigeeilt und standen dicht gedrängt an beiden Ufern. Laurids schaute zu ihnen hinüber, während er sein Brot kaute; er sah, dass nicht die Neugierde sie aus der Stadt getrieben hatte. Sie entzündeten große Feuer auf den Feldern und sammelten die Kanonenkugeln ein, die über den Strand verstreut lagen. Dann warfen sie die Eisenkugeln ins Feuer, erhitzten sie, bis sie glutrot waren, und brachten sie zu den Kanonenstellungen. Auf der Landstraße nach Kiel tauchte Landartillerie auf, gezogen von Pferden, und die Soldaten verteilten sich mit ihren Kanonen hinter den Einfriedungen aus Stein, die die umliegenden Felder begrenzten.
    Laurids erinnerte sich an die Erzählung seines Vaters über den Krieg gegen die Engländer, damals, als Marstal angegriffen wurde. Zwei englische Fregatten hatten südlich der Stadt geankert. Sie waren gekommen, um Marstals Schiffe zu kapern, von denen ein halbes Hundert im Hafen lag. Drei Barkassen mit bewaffneten Soldaten hatten die Engländer ausgesetzt, doch zusammen mit den Grenadieren der 2. Jyske Kompagni war es den Marstalern gelungen, sie in die Flucht zu schlagen. Die Verteidiger der Stadt hatten ihren Augen kaum getraut, als die Engländer sich zurückzogen.
    «Tja, eigentlich habe ich nie verstanden, worum es bei diesem Krieg
wirklich ging», hatte sein Vater hinzugefügt, «die Engländer sind doch ausgezeichnete Seeleute. Ich habe nichts an ihnen auszusetzen. Doch für uns ging es bei dem Krieg ums Brot. Wenn sie uns die Schiffe genommen hätten, wären wir am Ende gewesen. Darum haben wir gewonnen. Was hätten wir denn sonst machen sollen?»
     
    Nun saß Laurids auf der Christian VIII. unter der Parlamentärsflagge und betrachtete das Gewimmel von Menschen am Ufer. Er war sich nicht sicher, ob er den Krieg besser verstand als sein Vater. Sie kämpften für den Dannebrog gegen die Deutschen, und das sollte ihm eigentlich genügen. Und bis vor einem Moment war es ja auch noch so gewesen. Der Krieg war wie das Leben auf See. Man konnte die Wolken, die Windrichtung und die Strömungsverhältnisse genau beobachten, aber mit Bestimmtheit etwas über das unberechenbare Meer zu wissen war unmöglich. Es ging nur darum, sich einzurichten und lebend nach Hause zu kommen. Der Feind, das waren die Kanonenbatterien der Eckernförder Bucht. Wenn sie zum Verstummen gebracht werden konnten, war der Weg nach Hause offen. So war der Krieg für ihn. Er war kein Patriot, auch nicht das Gegenteil. Er nahm das Leben, wie es kam, und der Horizont, auf den er den Blick gerichtet hielt, war das Gewirr der Mastspitzen, der Mühlenflügel und des Dachreiters auf der Kirche. Es war Marstal, so wie die Stadt sich darbot, wenn wir uns an Bord eines Schiffs von See her näherten. Nun sah er, wie gewöhnliche Menschen in den Krieg zogen, nicht nur Soldaten, sondern Menschen aus der Stadt Eckernförde, einem Ort, den er oft mit seinen Kornlasten angesteuert hatte und aus dem er an jenem Abend gekommen war, als er ganz Ærø auf den Kopf gestellt hatte. Die Bürger aus Eckernförde standen zusammen am Ufer, so wie die Marstaler es einst auch getan hatten. Worum ging es also bei diesem Krieg?
     
    Am Strand wurde ein Boot zu
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