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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen
Autoren: Carsten Jensen
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oben, als die Blöcke und Schoten auf sie herabstürzten; so schwer waren sie, dass sie einen Mann erschlugen, der von ihnen getroffen wurde.
     
    Sämtliche Versuche, die Christian VIII. aus der Schusslinie zu bringen, schlugen fehl. Ein geordnetes Setzen der Segel war unmöglich, und der Wind stand direkt auf Land. Es hatte zu einer steifen Brise aufgefrischt, und das mächtige Schiff trieb auf die Küste zu, wo es unmittelbar östlich der südlichen Batterie auf Grund lief. Nun wurde das Feuer auf das
wehrlose Schiff intensiviert. In dieser Position waren nur die Achterkanonen noch einzusetzen, allerdings krängte das Schiff gewaltig, und nichts wollte mehr an seinem Platz stehen bleiben.
    Dann erklang ein Schrei: «Feuer im Schiff!»
    Was sie vorher für Feuer gehalten hatten, war im Vergleich hiermit falscher Alarm gewesen. Unter der inneren Batterie hatte eine glühende Kugel eingeschlagen und war steuerbords in den Frachtraum gedrungen. Rasch breitete sich das Feuer aus und drohte, die Pulverkammer in Brand zu stecken. Auch an anderen Stellen brannte es. Die Männer arbeiteten an den Pumpen, doch vergeblich. Das Feuer hatte die Oberhand gewonnen.
    Um sechs Uhr wurde die Flagge gestrichen und das Feuer auf der Christian VIII. eingestellt. Der Beschuss des Schiffs setzte sich allerdings noch eine Viertelstunde lang fort; dann war der unersättliche Feind endlich mit dem Umfang der Niederlage zufrieden, die er einem Kriegsschiff zugefügt hatte, das nur wenige Stunden zuvor unbezwingbar erschien.
    Als Zeichen der Kapitulation wurde Kommandant Paludan an Land gerudert, und nun sank der Mut der Männer. Sie gaben den Kampf gegen das Feuer auf. Übel riechend und verdreckt standen sie da und ließen den Kopf hängen. Ihre Seemannschaft wurde nicht mehr gebraucht, und weder mit dem Krieg noch mit einer Niederlage hatten sie irgendwelche Erfahrungen. Sie hatten geglaubt, der Krieg sei ein Fest, doch nun waren ihre Köpfe mit Ausnahme des Echos der Kanonendonner leer und ihre Seelen jeglicher Energie beraubt. Anderthalb Stunden hatte der letzte Teil dieser beschämenden Schlacht gedauert, für sie hätten es aber auch anderthalb Leben sein können. Sie sahen keinerlei Zukunft mehr, sie waren vollkommen erschöpft.
    Manche setzten sich mitten auf Deck in das Flammenmeer, als wären die Predigten des Pastors in Erfüllung gegangen und die Verschiffung ins Höllenfeuer hätte bereits stattgefunden. Andere starrten bloß regungslos vor sich hin. Das Uhrwerk war zerbrochen. Leutnant Ulrik, Leutnant Stjernholm und Leutnant Corfitz rannten herum und schrien sie an. Wenn die Katastrophe vermieden werden und der Stolz des Vaterlands nicht in die Luft fliegen sollte, sozusagen als letzter Paukenschlag einer Schlacht, die ihnen nicht gerade zur Ehre gereichte, dann brauchte man
sie mehr denn je. Doch die Kanonen hatten sie taub werden lassen. Nur auf Stöße und Tritte reagierten sie.
     
    Laurids ließ sich in die achterste Pulverkammer schicken, aber es dauerte eine gewisse Zeit, um all das Pulver ins Meer zu schütten. Sie waren nur zu fünft, und jedes Mal, wenn weitere Männer hinunter in die Kammer gejagt wurden, rannten sie sofort wieder hinauf.
    Plötzlich erklang der Schrei: «Alle Mann an Deck!»
    Sie wussten sofort, was das bedeutete. Sie sahen sich an, ließen Munition und Pulvertonnen fallen und kletterten hastig die Leiter empor.
    Auf Deck liefen Schafe, Kälber, Schweine, Hühner und Enten zwischen den Beinen der entsetzten Seeleute herum. Ein Schwein wühlte mit blutigem Rüssel in den Eingeweiden auf Deck. Hin und wieder schmatzte es irgendetwas in sich hinein.
    Jeder lief in eine andere Richtung, alle hatten irgendein nicht aufschiebbares Anliegen. Einige suchten ihre Sachen und den Seesack. Andere krabbelten auf das Schanzkleid, als würden sie ernsthaft erwägen, sich ins kalte Wasser zu stürzen. Keiner dachte an die Verwundeten, die auf Deck im Weg lagen und sich in dem allgemeinen Durcheinander damit abfinden mussten, dass auf ihnen herumgetrampelt wurde. Ihre Schmerzensschreie hörte niemand. Die meisten waren nach den vielen Stunden der intensiven Kanonade noch immer taub.
    Laurids lief hinunter ins Lazarett. Er wollte nicht glauben, dass die Verwundeten im Stich gelassen werden sollten. Rauch stieg zwischen den schweren Eichenplanken auf. Er hielt die Hand vor den Mund und tat ein paar Schritte in den völlig verqualmten Raum. Ein Sanitäter mit einem Lappen vor dem Gesicht kam auf ihn zu.
    «Kommt
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