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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen
Autoren: Carsten Jensen
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verloren und mit ihm auch unsere Tatkraft; wir begnügten uns damit, dankbar zu sein, dass wir noch lebten. Weiter reichten unsere Kräfte nicht.
    Sehr viel besser ging es unseren Wächtern allerdings auch nicht. Als sie uns vom Strand führten, geschah dies mit starrer Miene, der man
den Tod ansah, dem sie selbst nur mit knapper Not entronnen waren. Es sah nicht aus wie ein organisierter Gefangenenabmarsch, eher nach einer gemeinsamen Flucht vom Schauplatz des Krieges.
    Der Tag hatte den Deutschen einen überwältigenden Sieg beschert, doch Triumph war ihren Gesichtern nicht abzulesen. Das Entsetzen über die ungeheuren Kräfte, die der Krieg freisetzte, hatte Sieger und Besiegte vereint.

    Wir wurden in die Kirche von Eckernförde gebracht, deren Boden mit Stroh bedeckt war, damit wir uns hinlegen und unseren erschöpften Körpern Ruhe gönnen konnten. Wir alle waren nass bis auf die Haut und zitterten vor Kälte. Der Aprilabend wurde kühl, als die Sonne unterging. Diejenigen unter uns, die ihren Seesack gerettet hatten, begannen ihre Kleider zu wechseln, und den weniger glücklichen Kameraden borgten wir, was ihnen fehlte. Es dauerte nicht lange, bis wir mit Essen versorgt wurden. Jeder bekam eine Ration grobes Brot, Bier und Räucherspeck zugeteilt. Das Essen hatte man bei den Kaufleuten der Stadt gesammelt, denn niemand war davon ausgegangen, dass die Stadt Kriegsgefangene beherbergen musste. Im Gegenteil, alle hatten sich darauf eingestellt, dass in den Straßen von Eckernförde dänische Soldaten patrouillieren würden, noch bevor der Tag zu Ende ging. Doch statt sie zu bewachen, wurden wir nun von den Einwohnern der Stadt bewirtet.
    Alte Frauen tauchten in der Kirche auf und boten denen, die Geld hatten, feineres Brot und Branntwein an. Eine von ihnen war Mutter Ilse mit der schiefen Hüfte. Sie strich einem der Gefangenen über die rußgeschwärzte Wange und murmelte dabei: «Du armer Kerl.»
    Sie hatte ihn von einem früheren Besuch in der Stadt wiedererkannt. Wir hatten doch so oft Branntwein bei ihr gekauft.
    Der Gefangene nahm ihre Hand.
    «Nenn mich nicht einen armen Kerl. Ich bin zumindest noch am Leben.»
    Es war Ejnar.

     
    In der langen Kampfpause nach dem Hissen der Signalflagge war Ejnar an Deck umhergegangen und hatte nach Kresten gesucht. Unter den Lebenden oder Verwundeten hatte er ihn nicht gefunden. Viele Tote lagen auf dem Bauch und mussten umgedreht werden. Anderen war das Gesicht weggeschossen worden. Unter den Leichen bei der Kanone Nr. 7 befand er sich nicht.
    Torvald Bønnelykke, der an einer der anderen Kanonen gestanden hatte, kam auf ihn zu.
    «Suchst du nach Kresten?», fragte er.
    Er war aus Marstal und hatte sich ebenfalls Krestens düstere Vorahnungen anhören müssen.
    «Er liegt da drüben», sagte er und zeigte dorthin. «Du wirst ihn aber nicht erkennen, seinen Kopf hat eine Kanonenkugel erwischt. Ihn werden wir nicht mehr wiedersehen. Ich stand daneben, als es geschah.»
    «Dann hat er also doch recht behalten», sagte Ejnar. «Zum Teufel, was für eine Art zu sterben.»
    «Tot ist tot», sagte Bønnelykke. «Ich weiß nicht, ob die eine Art besser ist als die andere. Das Resultat ist doch das gleiche.»
    «Ich muss seinen Seesack finden. Das habe ich ihm versprochen. Hast du Lille Clausen gesehen?»
    Ejnar drehte sich zu Bønnelykke um, der den Kopf schüttelte. Sie suchten und fragten sich durch, aber niemand hatte den kleinen Marstaler gesehen.
     
    Es war ungefähr zehn Uhr abends, und erschöpft bereiteten wir uns auf die Nacht vor, als die Kirchentür aufging und ein weiterer Gefangener hereingeführt wurde. Er war in eine große Decke gehüllt, nieste ununterbrochen und zitterte am ganzen Körper.
    «Zum Teufel, wie ich friere», sagte er mit heiserer Stimme. Dann explodierte er in einem weiteren Niesanfall.
    «Ja, Augenblick mal, ist das nicht Lille Clausen?»
    Ejnar kam auf die Beine und ging auf seinen Freund zu.
    «Dann lebst du also.»
    «Ja, natürlich lebe ich. Hab ich doch gesagt. Aber mir geht’s hundsmiserabel. Ich glaub, ich sterbe stattdessen an Erkältung.»
    Erneut nieste er.

    Ejnar legte den Arm um ihn und führte ihn zu dem Strohlager, das er sich selbst hergerichtet hatte. Er spürte, wie Lille Clausen unter der Decke zitterte. Auf seinem weißen Gesicht zeigten sich rote Fieberflecken.
    «Hast du trockene Sachen?»
    «Nein, zum Teufel, ich konnte meinen Seesack nicht mitnehmen.»
    «Zieh das hier an. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, in Krestens
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