Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen
Autoren: Carsten Jensen
Vom Netzwerk:
Zeug herumzulaufen?»
    «Dann ist er …»
    «Ja, er hatte recht mit seinen Vorahnungen. Aber was war mit dir? Wir haben dich überall gesucht, aber niemand hat dich gesehen. Ich dachte, du auch … »
    «Wer gehängt werden soll, ersäuft nicht. Heißt es nicht so bei uns? Der Herrgott will, dass ich an Erkältung sterbe, nicht im Krieg. Also weißt du, mitten in der Schlacht, da haben sie mich in einem Bootsmannsstuhl die Bordwand heruntergefiert. Ich sollte die Einschusslöcher mit Bleiplatten reparieren. Mich haben sie auch beschossen, diese Satansbraten, aber sie haben mich nicht erwischt.»
    «Ich wusste gar nicht, dass du so ein Schwächling bist», sagte Ejnar. «Wirst krank von ein bisschen frischer Luft?»
    «Nein, ich wurde glatt vergessen. Ich saß den ganzen Tag mit den Beinen im Wasser. Es war verdammt kalt.»
    Lille Clausen nieste wieder.
    «Erst als das Schiff evakuiert wurde, gelang es mir, ein Boot anzupreien. Verdammt, ich bin am ganzen Körper blau. Ich konnte nicht mal laufen, als ich an Land kam.»
    Er hatte die trockenen Sachen angezogen und begann mit den Armen zu schlagen, um sich warm zu halten. Er sah sich in der Kirche um.
    «Haben wir viele Gefallene?»
    «Meinst du unter den Marstalern?»
    «Ja, wen sollte ich sonst meinen? Die anderen kenne ich nicht.»
    «Ich glaube, sieben haben wir verloren.»
    «Ist Laurids darunter?»
    Ejnar sah auf den Boden. Dann breitete er die Arme aus, als ob er etwas Peinliches zugeben wollte.
    «Dazu kann ich nichts sagen.»
    «Du meinst doch wohl nicht, dass er abgehauen ist?»

    «Nein, abgehauen ist er nicht. Ich sah ihn zum Himmel fahren. Aber ich sah ihn auch wieder herunterkommen.»
    Lille Clausen starrte ihn ungläubig an. Dann schüttelte er den Kopf.
    «Meine Augen erzählen mir, dass du nichts abbekommen hast», sagte er. «Aber meine Ohren sagen mir, dass dein Verstand Schaden genommen hat.»
    Er explodierte in einem weiteren Niesanfall und ließ sich auf das Strohlager fallen. Ejnar setzte sich neben ihn und stierte mit abwesendem Blick vor sich hin. Lille Clausen saß eine Weile steif da und tat so, als wäre er beleidigt. Verstohlen blickte er hinüber zu Ejnar und hoffte, seine Verschlossenheit würde zu irgendeiner Reaktion führen. Doch Ejnar starrte mit dem gleichen fernen Blick weiter vor sich hin. Vielleicht war er tatsächlich wahnsinnig geworden?
    «Na, na», tröstete ihn Lille Clausen. «Du wirst sehen, du kommst schon wieder zu Verstand.»
    Eine Zeit lang schwieg er. Dann fügte er leise hinzu: «Aber Laurids können wir wohl abschreiben.»
    Sie blieben noch ein wenig nebeneinander sitzen. Niemand sagte ein weiteres Wort. Dann legten sie sich hin und fielen erschöpft in den Schlaf.
    Um sieben Uhr morgens wurden wir geweckt und mit Brot, Räucherspeck und warmem Bier verköstigt. Eine Stunde später zählte man uns durch. Ein Offizier erschien und bat um unsere Namen und die Namen der Städte, aus denen wir kamen, damit er unseren Familien Bescheid geben konnte. Alle drängten sich um ihn. Eifrig riefen wir unsere Namen, und der Tumult war so groß, dass nur die Hälfte von uns notiert waren, als gegen zehn Uhr der Befehl zum Abmarsch in die Festung von Rendsburg gegeben wurde.
    Draußen vor der Kirche mussten wir uns in Reih und Glied aufstellen. Die Stimmung war umgeschlagen. Unsere Wachtposten hatten nun keine Geduld mehr mit ihren geschlagenen Feinden. Viele von uns waren noch halbtaub nach dem Kanonendonner des vorherigen Tages und verstanden nicht jeden Befehl, obwohl man sie uns direkt ins Gesicht brüllte. Wir wurden geschlagen und gestoßen. Die Einwohner der Stadt standen dicht um uns herum und brachen über unsere Demütigung in Hurrarufe aus. Eine Gruppe Matrosen mit Entermessern im Gürtel erging
sich in groben Beschimpfungen, die wir zu unserem großen Verdruss unbeantwortet lassen mussten.
     
    Die Landstraße führte am Strand entlang, so dass wir einen letzten Eindruck vom Schauplatz unserer unverständlichen Niederlage bekamen. Das Wrack der Christian VIII. trieb schwelend auf dem Wasser. Noch immer stieg Rauch aus dem verkohlten Rumpf. Am Ufer lagen verstreute Reste der Masten und Rahen, die bei der Explosion an Land geschleudert worden waren. Wie Ameisen, die das Skelett eines toten Löwen säubern, waren die Deutschen eifrig damit beschäftigt, die Schiffstrümmer zu bergen, die noch vor einigen Stunden zu einem der stolzesten Schiffe der dänischen Flotte gehört hatten.
    Wir kamen an der südlichen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher