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Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)

Titel: Winterwende: Die Welt aus Blut und Eis (German Edition)
Autoren: Brian Ruckley
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denen, die er für immer verloren geglaubt hatte. Im Speisesaal stieß er auf eine seltsam zusammengewürfelte Gruppe. Anyara, die Nichte des toten Thans, saß an einem Tisch mit zwei Na’kyrim : einem kleinen, zerzausten alten Mann, der im Sitzen zu schlafen schien, und einer Frau, die sich umwandte und ihn durchdringend musterte. Dahinter standen am prasselnden Kaminfeuer zwei hochgewachsene Kyrinin in der Kleidung der Waldläufer. Zwei steingraue Augenpaare richteten sich auf ihn, als er eintrat. Die Frau senkte den Blick, der Mann nicht. Die Wirbel und Spiralen seiner Tätowierungen verliehen ihm einen wilden Gesichtsausdruck. Taim verschlug es die Stimme.
    Taim wandte sich um, als auf der Treppe hinter ihm schwere Schritte zu hören waren. Zwei Gestalten kamen die Stufen herab. Rothe Cordin erkannte er sofort, obwohl sich sein Kampfgefährte stark verändert hatte. Er war schmaler und blasser geworden, hatte graue Haare und trug einen Arm in der Schlinge. Der Krieger ging unsicher und musste sich auf seinen Begleiter stützen. Und eben dieser Begleiter war es, der Taims Aufmerksamkeit weckte: ein feingliedriger Junge, dem die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stand. Ein Junge, dessen Blicke Trauer und Stärke zugleich verrieten. Ein Junge, vor dem Taim nur das Knie beugen und sich verneigen konnte.
    »Orisian, mein Than«, sagte er. »Mein Schwert und mein Leben gehören Euch.«
    II
    Der Na’kyrim hatte eine ganze Nacht auf dem Richtstein verbracht. Zwei Schleiereulen-Krieger saßen auf Grasbuckeln und beobachteten ihn. Während der gesamten Wache durften sie weder essen noch schlafen oder sprechen. Sie warteten ganz einfach, ob der Stein den Mann brechen und auf diese Weise richten würde. Sie hatten andere beobachtet, denen das gleiche Ende beschieden war. Meist dauerte es nicht lange. Ein gewöhnlicher Körper vermochte der Kraft dieses Felskolosses, dieses Seelenkäfigs, nicht zu widerstehen.
    Wasserschläuche lagen neben ihnen, dazu die Pelzumhänge, die sie in der Kälte der tiefsten Nachtstunden getragen hatten. Die hölzernen Bogen und Speere drückten gegen die Schultern. Sie hatten sich während der langen Dunkelheit kaum bewegt. Der Mann auf dem Richtstein hatte sich nur kurz aufgebäumt und trotz des Knebels laut gestöhnt.
    Graue Wolken hatten die aufgehende Sonne erstickt. Der Wind flaute ab. Die Baumwipfel erstarrten, und eine bleierne Stille senkte sich herab. Das Blut, das dem Mann in dünnen Rinnsalen aus den Handgelenken geflossen war, trocknete zu schwarzen Krusten. Sein Kopf hing nach vorn. Er hatte sich nun seit vielen Stunden nicht mehr gerührt, aber immer noch beobachteten die Kyrinin die gekrümmte Form seines nackten Körpers. Er sah aus, als sei er bereits halb tot.
    Ein Bussard schwebte am Himmel, kreiste immer tiefer und glitt schließlich auf den Richtstein zu. Einer der Wächter streckte ein Bein aus und nahm den Bogen in die Hand. Noch war die Zeit der Aasfresser nicht gekommen. Der Vogel schlug ein paar Mal mit den breiten Schwingen und schraubte sich wieder in die Höhe. Er zog noch einige Kreise und segelte dann über die Weite von Antyrin Hyr hinweg, auf der Suche nach unbewachter Beute.
    Die Zeit verstrich. Der Na’kyrim stöhnte, erwachte aber nicht aus seiner Ohnmacht.
    Der Tag verging und kroch träge der Nacht entgegen. Das graue Licht versickerte, bis sich die Form und die Einzelheiten der Bäume und Steine verwischten. Irgendwo weit weg klagte eine Eule. Sie erhielt Antwort aus noch größerer Ferne. Das Duett zog sich lange hin. Irgendwann rissen die Wolken auf, und durch die Lücken schimmerte Sternenlicht. Dann zeigte sich die von fahlem Glanz umgebene Mondsichel.
    Der Richtstein war in farbloses Licht getaucht. Die Kyrinin-Wächter sahen, dass der Mann auf dem Stein den Kopf gehoben hatte. Seine Augen blickten ins Leere, als richteten sie sich auf einen weit entfernten Punkt. Ein Krampf durchzuckte seine Brust, erfasste den ganzen Oberkörper und bewegte die Arme gegen die Holzschäfte, die sie festhielten. Sein Kopf sank wieder nach vorn. Die Beobachter warfen sich die Pelzumhänge über die Schultern und warteten.
    In der Stunde der bittersten Kälte kurz vor der Morgendämmerung, jener Stunde, in der die Welt dem Tod am nächsten war, begann der Na’kyrim zu weinen. Mit ihren an das Dunkel gewöhnten Augen sahen die Kyrinin die Tränen, die ihm über die Wangen rollten, das fiebrige Zittern, das seinen Rumpf durchlief. Speichelblasen zeigten sich um den
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