Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen
Autoren: Mark Helprin
Vom Netzwerk:
sich über sie, zog sie an sich und lauschte nach einem Lebenszeichen. Doch da war nichts. Er trug sie zum Boot, wie er sie so oft am Abend nach Hause getragen hatte, wenn sie in seinen Armen eingeschlafen war.
    Asbury zog die Barkasse gegen den Steg, während Hardesty einstieg, Abby von seiner Schulter nahm und sie auf den Lukendeckel legte. Virginia und Mrs Gamely hoben Martin hinein und kletterten dann selbst an Bord. Christiana stieß ab und sprang geschickt aufs Heck. Unter dem Lukendeckel vibrierte die alte Maschine so sehr, dass Abby die Haare aus dem Gesicht fielen. Nur Martin bemerkte es, denn er allein wagte es, sie anzusehen, da er als Einziger wirklich daran glaubte, dass sie erwachen würde. Er kniete neben ihr und wartete darauf, dass sich ihre Augen öffneten. Mrs Gamely tastete nervös an dem Breiumschlag herum, den sie in der Tasche hatte, doch sie wusste, er konnte höchstens Kranke heilen, nicht jedoch Tote zum Leben erwecken. Die anderen blickten überallhin, nur nicht auf Abby, aber Virginia hatte ihre rechte Hand auf die Schulter des kleinen Mädchens gelegt. Mitten durch die schmelzenden Eisschollen hindurch, mit einer kleinen Bugwelle und nur wenig Kielwasser, traten sie die Fahrt quer über das Hafenbecken an. Es begann hell zu werden.
    *
    Ja, es wurde hell. Die Sonne ging gerade über dem ersten Tag des dritten Jahrtausends auf, um die verwüstete Stadt zu besichtigen und zu sehen, mit wie viel Freude, Entschlossenheit und Mut die Bewohner diesen brandneuen Tag angehen würden. Wie immer vor der Morgendämmerung herrschte eine Art Aufbruchsstimmung. Die Nachrichten und Kuriere, die während der vergangenen Stunden in ständig anschwellender Flut zu Jackson Mead gekommen waren, blieben plötzlich aus. Niemand trat ein, um das Schweigen zu brechen, und sogar Cecil Mature saß still auf seinem Platz und blickte traurig durch die großen Fenster, die auf den grünen Hafen hinausgingen. Zum ersten Mal seit endlos langer Zeit war Mootfowl still und in sich gekehrt. Wie ein Hofnarr saß er schräg hinter Jackson Mead auf einem Schemel. Mindestens eine Stunde lang hatte er gebetet, doch niemand wusste genau, wofür.
    In der Stille dachte Jackson Mead darüber nach, was zu tun er sich anschickte, und ihm kamen Zweifel an einem Erfolg. Es war ihm schon früher nie geglückt, als die Elemente einfacher, die Luft reiner waren und als der Horizont von der unmittelbaren Präsenz des Wolkenwalls erzitterte. Doch jetzt gab es kaum noch jemanden, der den Wolkenwall als das erkannte, was er war, mochte er auch durch die Straßen brausen und die Seelen der Menschen weißwaschen. Zwar waren die Maschinen bereit, aber Jackson Mead selbst war sich nicht sicher, ob sich alle Voraussetzungen nahtlos zusammenfügten. Er zweifelte daran, dass das hehre, schimmernde Gold erscheinen würde, das ein Zeichen vollkommener, ausgewogener Gerechtigkeit setzen sollte, denn er konnte kaum noch glauben, dass sich irgendein Mensch an Gerechtigkeit erinnerte oder sie gar herbeiwünschte, sei sie nun irdisch oder göttlich. Die Menschen hatten sich die Gerechtigkeit immer so zurechtgelegt, wie sie ihnen am besten passte – und das bedeutete, dass alles möglichst rasch und unkompliziert zu sein hatte.
    Es hatte ganzer Zeitalter bedurft, bis Jackson Mead zu dem Schluss gelangt war, dass er aus Licht eine Brücke ohne sichtbares Ende bauen müsste. Davor hatte er wahre Wunder an herrlichen Proportionen und luftiger Anmut vollbracht, silberne Hängebrücken, die überall in der Welt hoch über windgefurchten Meerengen in der Brise sangen, die, über Schluchten hinweg, heidekrautbewachsene Steilhänge verbanden oder die beiden Hälften einer verarmten, nach Luft ringenden Stadt miteinander vermählten. Es war richtig und gut gewesen, diese weiten Bögen zu entwerfen, die allein schon in sich eine ideale Synthese von Aufstieg und Fall, von Hoffnung und Verzweiflung, von Aufruhr und Unterdrückung, von Stolz und Demut darstellten. Indem sie das universale Wesen der Wellen nachahmten, waren sie die gewaltigsten Bauwerke aller Zeiten – und wahrscheinlich auch, abgesehen vielleicht von Kirchtürmen, die in eine große Ferne hinaufwiesen, die frömmsten.
    Jetzt hatte er, Jackson Mead, die dicken, präzis ausgerichteten, vollkommen parallel verlaufenden und reinen Lichtbündel zur Verfügung. Nun konnte er darangehen, sie zu einer so allmählichen Kurve zu krümmen, dass sie nach allen bekannten Messmethoden absolut gerade erscheinen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher