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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen
Autoren: Mark Helprin
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Passage am anderen Ende des Hofes. Wie im Frühling oder Sommer streiften sie an grünem Laub vorbei, und als Peter Lake aufblickte, wusste er, dass es bald Morgen sein würde. »Komm«, sagte er, während er auf dem weißen Pferd durch das dunkle Laubwerk ritt. »Beeile dich! Bald bist du zu Hause!«
    *
    Als die Feuersbrunst endlich erstarb, hatte sie fast alles verschlungen. Die Eisenträger der ausgebrannten Gebäude glühten vor Hitze. Viel mehr als diese dunkelroten Gerippe war nicht übriggeblieben. Sie machten die Stadt zu einem kümmerlichen, düster glimmenden Abbild dessen, was sie einst gewesen war. Die geschützten Inseln standen inmitten einer Trümmerlandschaft, deren natürliche Geländebeschaffenheit zutage trat, und nach vielen hundert Jahren gab es in Manhattan wieder einmal so etwas wie freien Raum. Weiß, grau und silbrig stiegen Dampf und Rauch von den Flüssen auf. Die Straßen lagen verlassen da. Die Stadt war erobert und zerstört worden, und sie sah jetzt viel kleiner aus als zuvor.
    Kurz vor Tagesanbruch galoppierte Peter Lake auf Athansor die Avenuen hinauf und hinunter. Mit unnachahmlicher Anmut trug ihn der weiße Hengst von einem Ende der Insel zum anderen und wieder zurück, wie ein Rasiermesser auf dem Wetzriemen oder das Schiffchen beim Weben einer Stoffbahn. Sie segelten so mühelos hin und her, als glitten sie über eine Eisfläche. Im Vorbeireiten schien sich die Zeit in den Trümmern zu verdichten, sodass sie die Stadt sehen konnten, wie sie war und wie sie sein würde. Nie war ein vielfältigeres Gewebe ersonnen worden, denn hier ging es um die Zeit schlechthin. Zwar war die Stadt völlig zerstört, aber sie machte keineswegs einen toten Eindruck, sondern bestand fort, als ob ihre Seele der Materie, aus der sie einst bestanden hatte, nie bedurft hätte.
    Sie sahen, wie an einem Sommertag ein dunkles Gewitter hereinbrach, wie Kinder im Park auseinanderliefen, wie ihr Haar von plötzlichen Windstößen zerzaust wurde, wie die Reifen von selbst rollten, wie die Bänder an den Sommerhüten der kleinen Mädchen so heftig flatterten wie die Flügel eines Vogels, der sich in einem Haus gefangen hat. Sie sahen, wie sich in der Nacht ein Flugzeug allein in die Luft erhob, wie sein mächtiges weißes Licht aus der Leere zu ihnen herabstrahlte, als hätte Gott einen Engel geschickt. Sie sahen Schiffe und Kähne von Norden nach Süden und von Süden nach Norden eilen, als müssten sie weit vorgerückte, in Bedrängnis geratene Regimenter mit Nachschub versorgen. Ihre Bugwellen durchschnitten das klare, blaue Band des Hudson wie Schwerter. Sie sahen, wie Ringer auf der Matte ihre Kräfte maßen, wie sie, ohne es zu wissen, mit ihren Körpern symmetrische Figuren bildeten – Parodien auf Brücken, Balken und Gesteinsformationen. Sie sahen, wie ein kleines Kind eine Puppe küsste. Sie sahen, wie eine große Menschenmenge um die Mittagszeit im Textilviertel wie hypnotisiert eine sechs Stockwerk hohe Dampframme anstarrte. Immer wieder schlug sie dröhnend zu, Metall prallte auf Metall. Sie vernahmen das aberwitzige Keuchen des Dampfes, der das schwere Gewicht hinaufstemmte, wieder und wieder, ganz wie die Arbeiter, die die Stunden und Tage ihres Lebens mit Nähen und Sticken verbrachten. Sie sahen eine Familie an einem Teich spazieren gehen und schlossen aus dem Stil der Häuser mit ihren Holzwänden, dass die Enten auf dem Teich nie eine andere Sprache als Holländisch gehört hatten. Sie sahen mutige kleine Boote, die durch das Hell Gate eilten und zwischen Felswänden auf einer weißschäumenden Strömung tanzten. Sie sahen eine in rosiges Licht getauchte junge Schauspielerin, die ihre Rolle spielte und ihre Angst überwand. Im Sonnenlicht und in Schneestürmen sahen sie stahlgraue Brücken, die die Stadt wie riesige Eisenbetten umstanden.
    All diese Bilder entfalteten sich vor ihnen wie Fahnen, die sich im Wind blähen. Sie schienen allein schon deshalb ein wichtiger Teil der Wahrheit zu sein, weil es immer die gleichen Kurven, die gleichen Farben, die gleichen fließenden Symmetrien, die gleichen Gefühle, Unternehmungen und Handlungen waren, die über die Zeiten hinweg mit einer Sprache und mit einem Lied von einer einzigen Schönheit kündeten und sangen.
    Peter Lake ritt an Tanzpalästen und Symphonieorchestern vorbei, deren Klänge sich zehnfach überlagerten und zu einem einzigen vollkommenen Ton vereinten. Und über all diesen makellosen Bildern sah er Athansor als Anführer einer
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