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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Autoren: Ken Follett
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wieder. »Hallo, Ada, erinnern Sie sich an mich?«, fragte er auf Deutsch. »Ich bin Lloyd Williams.«
    Drinnen war das Haus schmucker als von außen. Ada führte ihn in den Salon. Auf dem Klavier standen Blumen in einem Glas. Eine bunt gemusterte Decke war über das Sofa geworfen; zweifellos sollte sie Löcher im Bezug verdecken. Das Zeitungspapier in den Fensterrahmen ließ erstaunlich viel Licht ein.
    Ein ungefähr zweijähriger Junge kam ins Zimmer und musterte Lloyd mit unverhohlener Neugier. Die Kleidung des Jungen, dessen Gesicht einen erkennbar asiatischen Einschlag hatte, war offensichtlich im Haus geschneidert worden. »Wer bist du?«, fragte der Kleine.
    »Ich heiße Lloyd. Und wer bist du?«
    »Walter«, sagte der Kleine. Er rannte aus dem Zimmer. Lloyd hörte, wie er zu jemandem sagte: »Der Mann redet so komisch!«
    So viel zu meiner deutschen Aussprache, dachte Lloyd.
    Dann hörte er die Stimme einer Frau mittleren Alters. »Rede nicht so frech, Walter! Das ist unhöflich.«
    »Entschuldigung, Großmama.«
    Im nächsten Moment trat Maud ein.
    Ihr Aussehen schockierte Lloyd. Sie war Mitte fünfzig, sah aber aus wie siebzig. Ihr Haar war grau, das Gesicht ausgezehrt, das blaue Seidenkleid fadenscheinig. Mit welken Lippen küsste sie ihn auf die Wange. »Lloyd Williams! Welche Freude, dich zu sehen.«
    Sie ist meine Tante, dachte Lloyd, den dabei ein merkwürdiges Gefühl überkam. Aber Maud wusste es nicht; Ethel hatte das Geheimnis bewahrt.
    Nach Maud kam Carla ins Zimmer, die Lloyd nicht wiedererkannte, dann ihr Mann. Lloyd hatte Carla als altkluge Elfjährige kennengelernt; jetzt war sie sechsundzwanzig. Obwohl sie halb verhungert wirkte wie die meisten Deutschen, war sie eine schöne Frau mit einer selbstsicheren Ausstrahlung, die Lloyd überraschte. Irgendetwas an der Art, wie sie sich hielt, brachte ihn auf den Gedanken, sie könnte schwanger sein. Aus Mauds Briefen wusste er, dass Carla Werner geheiratet hatte, der 1933 ein gut aussehender Charmeur gewesen und ganz der Alte geblieben war.
    Eine Stunde lang sprachen sie über die Geschehnisse der zurückliegenden Jahre. Die Familie hatte unvorstellbare Schrecken durchlitten, und sie sprachen offen darüber; trotzdem hatte Lloyd den Eindruck, dass sie ihm die schlimmsten Dinge verschwiegen. Er selbst erzählte von Daisy und Evie. Während des Gesprächs kam ein Mädchen im Backfischalter ins Zimmer und fragte Carla, ob sie ihre Freundin besuchen gehen dürfe.
    »Das ist unsere Tochter Rebecca«, sagte Carla zu Lloyd.
    Rebecca war ungefähr sechzehn, also musste sie adoptiert sein.
    »Hast du deine Hausaufgaben fertig?«, fragte Carla.
    »Die mach ich morgen früh.«
    »Mach sie bitte jetzt.«
    »Oh, bitte, Mutter!«
    »Kommt nicht infrage«, sagte Carla. Sie wandte sich wieder Lloyd zu, und Rebecca rauschte aus dem Zimmer.
    Sie sprachen über die Krise. Carla war als Stadtverordnete tief in das Geschehen verwickelt. Die Zukunft Berlins sah sie ziemlich finster. Sie glaubte, die Russen würden die Bevölkerung aushungern, bis der Westen kapitulierte und die Stadt vollständig unter sowjetische Kontrolle gab.
    »Ich will euch etwas zeigen, das euch vielleicht neuen Mut macht«, sagte Lloyd. »Fahren wir ein Stück?«
    Maud blieb mit Walter zurück, aber Carla und Werner begleiteten Lloyd. Er wies den Fahrer an, sie nach Tempelhof zu bringen, dem Flughafen im amerikanischen Sektor. Als sie dort eintrafen, führte er sie zu einem hohen Fenster, das einen Blick auf die Landebahnen gewährte.
    Auf dem Vorfeld stand ein Dutzend C-47 Skytrains hintereinander, Bug an Heck, einige Flugzeuge mit dem Stern der USAF , andere mit der Kokarde der RAF . Ihre Frachttüren waren offen, und neben jeder Maschine wartete ein Lkw. Deutsche Dienstmänner und amerikanische Flieger entluden die Flugzeuge und wuchteten Mehlsäcke, riesige Fässer mit Kerosin, Kartons mit Medikamenten und Holzkisten mit Tausenden Milchflaschen auf die Lastwagen.
    Währenddessen hoben entladene Flugzeuge wieder ab, und weitere Maschinen befanden sich im Landeanflug.
    »Das ist unfassbar«, sagte Carla mit glänzenden Augen. »So etwas habe ich noch nie gesehen.«
    »So etwas hat es auch noch nie gegeben«, entgegnete Lloyd.
    »Aber können Briten und Amerikaner das aufrechterhalten?«
    »Das werden wir wohl müssen.«
    »Und wie lange?«
    »So lange, wie es nötig ist«, sagte Lloyd entschlossen.

K A P I T E L  2 5
    1949
    Am 29. August 1949 war das 20. Jahrhundert zur Hälfte
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