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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
Autoren: Ken Follett
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Art Wunder bewirkt. Über Nacht waren wieder Waren in den Schaufenstern aufgetaucht: Obst und Gemüse aus dem Umland, Butter, Eier, Gebäck, lange gehortete Luxusartikel wie neue Schuhe und Handtaschen, sogar Nylonstrümpfe für vier Mark das Paar. Die Menschen hatten offenbar nur darauf gewartet, ihre Waren wieder für echtes Geld verkaufen zu können.
    An diesem Nachmittag machte Carla sich noch einmal auf den Weg zum Neuen Stadthaus, um dort an der für vier Uhr angesetzten Magistratsversammlung teilzunehmen. Als sie sich dem Gebäude näherte, sah sie Dutzende Lastwagen der Roten Armee in den Nebenstraßen. Größtenteils handelte es sich um amerikanische Lkws, die wohl noch aus dem Leih- und Pachtgesetz aus Kriegszeiten stammten. Carla bekam eine Ahnung davon, welchem Zweck die Fahrzeuge dienten, als sie vor sich Tumult hörte. Das Ass im Ärmel Marschall Sokolowskis war offenbar ein Schlagstock.
    Vor dem Magistratsgebäude flatterten rote Fahnen über den Köpfen mehrerer tausend Menschen, viele davon mit kommunistischem Parteiabzeichen. Aus Lautsprecherwagen dröhnten zornige Reden, und die Menge schrie: »Nieder mit den Sezessionisten!«
    Carla wusste nicht, wie sie das Neue Stadthaus erreichen sollte. Eine Handvoll Polizisten schaute dem Treiben desinteressiert zu. Sie machten keine Anstalten, den Stadtverordneten in das Gebäude zu helfen. Es erinnerte Carla schmerzhaft an die Haltung der Polizei, als die Braunhemden vor fünfzehn Jahren das Büro ihrer Mutter demoliert hatten. Sie war überzeugt, dass die Kommunisten bereits im Gebäude waren; sollte es den Sozialdemokraten nicht gelingen, ebenfalls hineinzukommen, würden die Kommunisten den Erlass absegnen und für gültig erklären.
    Carla atmete tief durch und versuchte, sich durch die Menge zu drängen.
    Ein paar Schritte kam sie unbemerkt voran, dann wurde sie von jemandem erkannt. »Amerikanerhure!«, brüllte der Kerl und zeigte mit dem Finger auf sie. Carla drängte sich entschlossen weiter. Irgendjemand spuckte sie an; Speichel klebte auf ihrem Kleid. Sie ging unbeirrt weiter, doch allmählich überkam sie Panik. Sie war von Menschen umringt, die sie hassten. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Am liebsten wäre sie davongelaufen. Sie wurde geschubst und gestoßen, konnte sich aber auf den Beinen halten. Eine Hand krallte sich in ihr Kleid, und der Stoff riss. Beinahe hätte Carla vor Angst geschrien. Was würden diese Menschen tun? Ihr die Kleider vom Leib reißen?
    Dann bemerkte sie, dass sich hinter ihr noch jemand durch die Menge kämpfte. Sie blickte über die Schulter und sah Heinrich von Kessel, Friedas Mann. Er schloss zu ihr auf, und gemeinsam wühlten sie sich weiter voran. Heinrich war entschieden aggressiver als Carla. Er trat auf Zehen und stieß jeden in Reichweite grob mit dem Ellbogen weg, sodass sie nun schneller vorankamen. Schließlich erreichten sie die Tür und betraten das Gebäude.
    Aber damit war es immer noch nicht vorbei. Auch im Innern wimmelte es von kommunistischen Demonstranten. Carla und Heinrich mussten sich durch einen Flur nach dem anderen kämpfen. Überall im Ratssaal waren Demonstranten, nicht nur auf der Zuschauergalerie, auch im Plenum, und sie verhielten sich genauso aggressiv wie ihre Gesinnungsgenossen draußen.
    Einige Sozialdemokraten hatten sich bis hierher durchgekämpft, und nach und nach trafen weitere ein. Schließlich gelang es fast allen, sich durch den Mob hindurchzukämpfen.
    Carla war erleichtert. Der Gegner hatte sie nicht verscheuchen können.
    Als der Vorsitzende den Rat zur Ordnung rief, sprang ein kommunistischer Abgeordneter auf eine Bank und rief den Demonstranten zu: »Bleibt, Leute!« Als er Carla sah, brüllte er: »Lieber sollten diese Verräter gehen!«
    Alles erinnerte auf schreckliche Weise an 1933: die Drohungen, das Geschrei, der Fanatismus. Wieder schien es, als würde die Demokratie von Schlägertrupps zerschmettert.
    Verzweifelt blickte Carla zur Zuschauergalerie hinauf. Zu ihrem Entsetzen stand dort Erik und grölte mit dem Mob.
    »Du bist Deutscher!«, schrie Carla ihren Bruder an. »Du hast unter den Nazis gelebt! Hast du denn gar nichts gelernt?«
    Er schien sie nicht zu hören.
    Louise Schroeder stand auf dem Podium und bat um Ruhe. Die Demonstranten buhten sie aus. Daraufhin hob sie die Stimme und rief: »Wenn der Magistrat in diesem Gebäude keine ordentliche Sitzung abhalten kann, verlege ich die Zusammenkunft in den amerikanischen Sektor!«
    Wieder wurde sie
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