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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition)
Autoren: Sherwood Anderson
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Gegenwart erneuerte und erfrischte ihn. Es war, als hülfe ihre Frauenhand, eine winzige Korrektur an der Maschinerie seines Lebens vorzunehmen. Er dachte mit einer Art Ehrerbietung an die Leute in der Stadt, in der er immer gelebt hatte. Auch für Helen empfand er Ehrerbietung. Er wollte sie lieben und von ihr geliebt werden, doch er wollte sich im Augenblick von ihrer Weiblichkeit nicht verwirren lassen. In dem Dunkel nahm er ihre Hand und legte ihr, als sie sich dicht an ihn schmiegte, eine Hand auf die Schulter. Ein Wind kam auf, und er zitterte. Mit aller Kraft versuchte er, die Stimmung, die über ihn gekommen war, festzuhalten und zu verstehen. An dieser erhöhten Stelle in dem Dunkel hielten diese beiden seltsam empfindlichen menschlichen Atome einander fest und warteten. In beider Köpfen war derselbe Gedanke.«Ich bin an diesen einsamen Ort gekommen, und hier ist dieser andere», war der Gehalt dessen, was sie fühlten.
    In Winesburg war der gedrängte Tag in eine lange Spätherbstnacht gemündet. Farmpferde trabten auf einsamen Landstraßen davon, zogen ihren Anteil an müden Menschen. Verkäufer trugen Warenproben von
den Gehsteigen nach drinnen und verriegelten Ladentüren. In der Oper hatte sich eine Menschenmenge versammelt, um eine Aufführung zu sehen, und ein Stück weiter auf der Main Street schwitzten und arbeiteten die Fiedler, die Instrumente gestimmt, um die Füße der Jugend weiter über den Tanzboden fliegen zu lassen.
    Im Dunkel auf der Tribüne saßen schweigend Helen White und George Willard. Ab und an wurde der Bann, der sie festhielt, gebrochen, dann wandten sie sich einander zu und versuchten, sich in dem schwachen Licht in die Augen zu sehen. Sie küssten sich, doch dieser Drang war nicht von Bestand. Am oberen Ende des Festplatzes versorgte ein halbes Dutzend Männer die Pferde, die am Nachmittag Rennen gelaufen waren. Die Männer hatten ein Feuer errichtet und erhitzten kesselweise Wasser. Nur ihre Beine waren zu sehen, wie sie in dem Schein hin und her gingen. Wenn der Wind blies, tanzten die kleinen Flammen des Feuers irrwitzig umher.
    George und Helen erhoben sich und gingen ins Dunkel. Sie schritten auf einem Weg an einem Feld mit Mais entlang, der noch nicht geschnitten war. Der Wind wisperte in den trockenen Maisblättern. Auf ihrem Weg zurück zur Stadt war der Bann, der sie festhielt, für einen Moment gebrochen. Als sie zur Kuppe des Wasserwerk-Bergs kamen, blieben sie an einem Baum stehen, und wieder legte George dem Mädchen die Hände auf die Schultern. Sie umarmte ihn begierig, und wieder scheuten sie schnell von diesem Drang zurück. Sie hörten auf, sich zu küssen, und stellten sich ein wenig abseits voneinander. Ihr gegenseitiger Respekt
steigerte sich. Sie waren beide verlegen, und um die Verlegenheit zu lindern, verfielen sie in die Sinnenfreude der Jugend. Sie lachten und zerrten und zogen aneinander. In gewisser Weise zur Einsicht gebracht und gereinigt von der Stimmung, in der sie gewesen waren, wurden sie nicht Mann und Frau, nicht Junge und Mädchen, sondern aufgeregte kleine Tiere.
    Und so gingen sie den Berg hinab. Im Dunkeln spielten sie wie zwei herrlich junge Wesen in einer jungen Welt. Einmal, als sie schnell dahinrannten, stellte Helen George ein Bein, worauf er stürzte. Er wälzte sich und schrie. Bebend vor Lachen rollte er den Berg hinab. Helen rannte ihm hinterher. Einen kurzen Augenblick lang blieb sie im Dunkeln stehen. Es ließ sich unmöglich sagen, welche Frauengedanken ihr durch den Kopf gingen, doch als der Fuß des Hügels erreicht war und sie zu dem Jungen trat, hakte sie sich bei ihm ein und schritt in würdevollem Schweigen neben ihm her. Aus irgendeinem Grund, den sie nicht hätten benennen können, hatten sie beide von ihrem gemeinsamen schweigsamen Abend erhalten, was sie brauchten. Mann oder Junge, Frau oder Mädchen, für einen Augenblick hatten sie nach dem gegriffen, was Männern und Frauen das reife Leben in der modernen Welt ermöglicht.

ABREISE
    Der junge George Willard stand um vier Uhr morgens auf. Es war April, und die jungen Baumblätter brachen gerade aus ihren Knospen. Die Wohnstraßen Winesburgs sind dann mit Ahorn gesäumt, deren Samen sind geflügelt. Weht der Wind, wirbeln sie wie verrückt umher, erfüllen die Luft und bilden auf der Erde einen Teppich.
    George trat mit einer braunen Ledertasche ins Büro des Hotels. Sein Koffer war zur Abreise gepackt. Seit zwei Uhr war er wach gewesen, hatte über die Reise
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