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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition)
Autoren: Sherwood Anderson
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Untoten erfülltes Dorf Comala in Pedro Páramo erinnert als an Thornton Wilders lebensvoll-friedliches Grover’s Corners aus Unsere kleine Stadt , wird nicht bewohnt von Menschen, die für ins Groteske gesteigerte Ideen leben, sondern von traurigen Wesen voller Sehnsucht und leiser Verzweiflung, die jede Orientierung verloren haben. Sie haben eben keine Wahrheiten gefunden, sie haben lange schon die Suche danach aufgegeben.
    Winesburg, Ohio begründete die Gattung der interlinking short stories , also der Geschichtenreihe, deren einzelne Episoden, wiewohl in sich abgeschlossen, miteinander verbunden sind. Bei jedem Vertreter dieser Form lässt sich von Neuem die müßige Diskussion darüber führen, ob es sich «nur» um eine durch Querverweise aufgewertete Sammlung oder «schon» um einen Roman handelt – als wäre ein Roman an sich schon etwas Besseres, als wäre er die Königsdisziplin, der alle anderen Formen nahezukommen suchen. Das entscheidende – und doch wiederum recht vage – Kriterium könnte sein, dass bei verbundenen Kurzgeschichten jedes einzelne Kapitel für sich stehen kann, ohne auf die vorangegangenen angewiesen zu sein. Und das trifft bei Sherwood Anderson zweifellos zu. Anderson bringt das Kunststück zustande, dass die Geschichten in der Kombination mysteriöser wirken als für sich allein: Der Leser versucht unablässig, den Verbindungen nachzuspüren und das Rätsel zu lösen, und
zwar auch dann, wenn er schon längst begriffen hat, dass das Rätsel keine Lösung hat und der Weg nicht an ein Ziel führen kann. Die Geschichten kommentieren einander, eine führt zur anderen, zugleich aber scheinen die Gewissheiten darüber, welche Bewandtnis es mit den Figuren hat, beim Lesen immer weiter zu schwinden. So will es die Natur dieser Gattung, so verhält es sich von Winesburg, Ohio über J. D. Salingers Geschichten von der Familie Glass bis hin zu Jennifer Egans A Visit from the Goon Squad , und so ist es auch bei den großen Episodenfilmen. Denn nicht in der Literatur, sondern im Film hat Winesburg, Ohio seine deutlichsten Spuren hinterlassen: in Robert Altmans Short Cuts von 1993 etwa (denn die Vorlage Raymond Carvers weist eben keine Verknüpfung zwischen den Geschichten auf), in Paul Thomas Andersons Magnolia von 1999 oder in Paul Haggis’ L. A. Crash aus dem Jahr 2004.
    All diese Beispiele stammen aus den Vereinigten Staaten. Ist das ein Zufall? Oder ist der «Roman in Episoden» wie auch der «Film in Episoden» eine zutiefst amerikanische Form? Ist Winesburg, Ohio ein amerikanischer Klassiker, weil er die geeignete Form gefunden hat, etwas Existenzielles über ein Land zu erzählen, das ständig die Gemeinschaft beschwört und doch so viel mehr als das alte Europa ein Land der Einsamkeit und der Melancholie ist? Der klassische Gesellschaftsroman spürt den hundertfachen Vernetzungen jedes Menschen mit der Gemeinschaft nach, der Episodenroman aber hat es mit Einzelschicksalen zu tun, die für sich stehen und sich nur nach und nach
auf hintergründige Weise als miteinander verbunden entpuppen.
    Winesburg, Ohio ist ein verwirrendes Buch über verwirrte Leute, dessen scheinbar einfacher Stil darüber hinwegtäuscht, dass man ständig aufpassen und sehr genau lesen muss, um nicht den Faden und die Übersicht zu verlieren. Es gibt über hundert Figuren, dreiunddreißig davon kommen in mehr als einer Geschichte vor, und nur eine, der junge George Willard, in fast allen – und niemals erfahren wir, wer denn nun eigentlich der alte Mann mit dem weißen Bart ist, der uns zu Anfang seine Theorie des Grotesken vorstellt; es könnte sowohl Anderson selbst sein als auch ein gealterter George Willard oder vielleicht einfach eine Parodie auf die Idee auktorialer Allwissenheit; denn der Episodenroman ist immer nahe an der Metafiktion angesiedelt. Leicht entstehen spielerische Verknüpfungen, indem Figuren in mehreren Geschichten auftreten oder aus der Figur einer Geschichte der Autor einer anderen wird. Auch ist es, genau genommen, nicht ganz richtig, von «Geschichten» zu sprechen, manche der Texte bleiben Essays, die sich plötzlich und für einige Absätze zu Handlungsabläufen verdichten, andere sind nur meisterhaft knappe Charakterbeschreibungen. Oft geschieht wenig, manchmal gar nichts, und kaum je kommt es zu einer echten Konfrontation zweier Figuren. Die Bewohner von Winesburg sind nicht kämpferisch, dazu sind sie zu allein, zu verloren und zu sehr Bewohner ihrer eigenen
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