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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition)
Autoren: Sherwood Anderson
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die Straßen seiner Stadt. Er denkt an die Zukunft und an die Figur, die er in der Welt abgeben wird. Ehrgeiz und Bedauern regen sich in ihm. Plötzlich geschieht etwas: Er bleibt unter einem Baum stehen und wartet wie auf eine Stimme, die seinen Namen ruft. Die Geister des Alten kriechen ihm ins Bewusstsein; die
Stimmen von außen flüstern eine Botschaft bezüglich der Beschränkungen des Lebens. Davor war er seiner selbst und seiner Zukunft ganz sicher, nun ist er es nicht mehr. Ist er ein phantasievoller Junge, wird eine Tür aufgestoßen, und zum ersten Mal blickt er auf die Welt und sieht, als marschierten sie in einer Prozession an ihm vorüber, die zahllosen Männergestalten, die vor seiner Zeit aus dem Nichts in die Welt getreten sind, ihr Leben gelebt haben und wieder im Nichts verschwunden sind. Die Traurigkeit der Erfahrenheit hat den Jungen erreicht. Leise ächzend sieht er sich lediglich als Blatt, das vom Wind durch die Straßen seiner Stadt geweht wird. Er weiß, dass er trotz der großen Reden seiner Kameraden in Ungewissheit leben und sterben muss, als etwas von Winden Umhergewehtes, als etwas, was wie Mais dazu bestimmt ist, in der Sonne zu welken. Er schaudert und sieht sich begierig um. Die achtzehn Jahre, die er gelebt hat, erscheinen ihm als nur ein Augenblick, eine Atempause auf dem langen Marsch der Menschheit. Schon hört er den Tod rufen. Er wünscht sich von ganzem Herzen, einem anderen Menschen nahezukommen, jemanden mit den Händen zu berühren, von der Hand eines anderen berührt zu werden. Möchte er lieber, dass dieser andere eine Frau ist, so deshalb, weil er glaubt, dass eine Frau sanft sein, dass sie ihn verstehen würde. Vor allem anderen sucht er Verständnis.
    Als der Augenblick der Erfahrenheit George Willard erreichte, wandten sich seine Gedanken Helen White zu, der Tochter des Winesburger Bankiers. Stets war er sich bewusst gewesen, dass das Mädchen zur Frau
heranwuchs, so wie er zum Mann. In einer Sommernacht, da war er achtzehn, war er mit ihr über eine Landstraße spaziert und hatte in ihrer Gegenwart dem Drang zu prahlen nachgegeben, um in ihren Augen groß und bedeutsam zu erscheinen. Jetzt wollte er sie zu einem anderen Zweck sehen. Er wollte ihr von den neuen Impulsen erzählen, die ihn erfasst hatten. Er hatte versucht, in ihren Augen als Mann zu erscheinen, als er vom Mannsein noch gar nichts wusste, und jetzt wollte er mit ihr zusammen sein, damit sie die Veränderung spürte, die, wie er glaubte, in seinem Wesen stattgefunden hatte.
    Auch Helen White stand vor einer Zeit der Veränderung. Was George empfand, empfand auch sie auf ihre Weise als junge Frau. Sie war kein Mädchen mehr und sehnte sich danach, die Anmut und Schönheit des Frauseins zu erlangen. Sie war aus Cleveland, wo sie das College besuchte, nach Hause gekommen, um einen Tag auf dem Volksfest zu verbringen. Auch ihr kamen nun Erinnerungen. Den Tag über saß sie auf der Tribüne mit einem jungen Mann, einem der Dozenten am College, der bei ihrer Mutter zu Gast war. Der junge Mann hatte ein pedantisches Wesen, und sie spürte gleich, dass er ihren Vorstellungen nicht gerecht wurde. Auf dem Volksfest zeigte sie sich gern in seiner Gesellschaft, denn er war gut gekleidet und ein Fremder. Sie wusste, dass seine Anwesenheit Eindruck machen würde. Den Tag über war sie glücklich, doch mit Einbruch der Nacht wurde sie unruhig. Sie wollte den Dozenten vertreiben, von ihm loskommen. Während sie auf der Tribüne zusammensaßen und die Blicke früherer
Schulkameradinnen auf ihnen ruhten, bedachte sie ihren Begleiter mit so viel Aufmerksamkeit, dass sein Interesse erwachte. «Ein Gelehrter braucht Geld. Ich sollte eine Frau mit Geld heiraten», sinnierte er.
    Helen White dachte an George Willard, gerade als er trübselig durch die Mengen streifte und auch an sie dachte. Sie erinnerte sich an den Sommerabend, als sie zusammen spazieren gegangen waren, und wollte noch einmal mit ihm spazieren gehen. Sie glaubte, die Monate, die sie in der Stadt verbracht hatte, die Theaterbesuche und der Anblick großer Menschenmengen in erhellten Straßen hätten sie tief greifend verändert. Sie wollte ihn die Veränderung ihres Wesens spüren lassen und sich ihrer bewusst werden.
    Der gemeinsame Sommerabend, der sich dem Gedächtnis des jungen Mannes ebenso wie der jungen Frau eingeprägt hatte, war, ganz nüchtern betrachtet, recht dumm verlaufen. Sie waren auf einer Landstraße aus der Stadt hinaus gewandert. Dann
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