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Winesburg, Ohio (German Edition)

Winesburg, Ohio (German Edition)

Titel: Winesburg, Ohio (German Edition)
Autoren: Sherwood Anderson
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nachgedacht, die er nun antreten wollte, und sich gefragt, was er wohl an ihrem Ende vorfinden würde. Der Junge, der im Hotelbüro schlief, lag auf einem Feldbett bei der Tür. Sein Mund stand offen, und er schnarchte kräftig. George schlich an dem Feldbett vorbei und trat auf die stille, verlassene Hauptstraße hinaus. Der Osten war vom Morgengrauen schon rosa, und lange Lichtstreifen stiegen in den Himmel, an dem noch ein paar Sterne schienen.
    Hinter dem letzten Haus am Trunion Pike in Winesburg erstrecken sich weite Felder. Die Felder gehören Farmern, die in der Stadt wohnen und abends den Trunion Pike entlang auf leichten, knarrenden Wagen nach Hause fahren. Auf den Feldern wachsen Beeren
und kleine Früchte. In heißen Sommern am späten Nachmittag, wenn Straße und Felder staubbedeckt sind, liegt über dem großen, flachen Landbecken ein rauchiger Dunst. Der Blick darüber gleicht einem Blick übers Meer. Im Frühling, wenn das Land grün ist, ist der Eindruck ein anderer. Dann wird das Land zu einem großen, grünen Billardtisch, auf dem winzige menschliche Insekten schuften.
    Während seiner ganze Kindheit und der Jahre als junger Erwachsener war George Willard es gewohnt, auf dem Trunion Pike zu laufen. Er war in Winternächten auf der großen weiten Fläche gewesen, wenn sie schneebedeckt war und nur der Mond auf ihn herabschaute; er war im Herbst dort gewesen, wenn raue Winde wehten, und an Sommerabenden, wenn die Luft vom Gesang der Insekten zitterte. An dem Morgen im April wollte er nochmals dorthin, wollte nochmals in der Stille gehen. Und so ging er denn dahin, wo die Straße an einem kleinen Flusslauf zwei Meilen vor der Stadt absank, dann kehrte er um und ging schweigend zurück. Als er auf die Main Street gelangte, fegten Verkäufer die Gehsteige vor den Geschäften. «He du, George. Wie fühlt sich das an, wenn man weggeht?», fragten sie.
    Der Zug nach Westen verlässt Winesburg morgens um sieben Uhr fünfundvierzig. Tom Little ist Schaffner. Sein Zug fährt von Cleveland bis dahin, wo er Anschluss an die große Fernbahn mit Endstationen in Chicago und New York hat. Tom hat eine, wie es in Eisenbahnerkreisen heißt, «leichte Fahrt». Jeden Abend kehrt er zu seiner Familie heim. Im Herbst und Frühjahr
verbringt er die Sonntage mit Fischen am Eriesee. Er hat ein rundes, rotes Gesicht und kleine blaue Augen. Er kennt die Leute in den Städten entlang seiner Strecke besser als ein Städter die Leute, die im eigenen Wohnblock leben.
    Um sieben Uhr kam George den kleinen Hang vom «New Willard House» herab. Tom Willard trug ihm die Tasche. Der Sohn war inzwischen größer als der Vater.
    Auf dem Bahnsteig schüttelte jeder dem jungen Mann die Hand. Über ein Dutzend Leute standen da. Dann redeten sie über ihre eigenen Angelegenheiten. Sogar Will Henderson, der faul war und oft bis neun Uhr schlief, war aufgestanden. George war verlegen. Gertrude Wilmot, eine große, dünne Frau von fünfzig Jahren, die im Winesburger Postamt arbeitete, kam den Bahnsteig entlang. Bis dahin hatte sie George nie beachtet. Jetzt blieb sie stehen und hielt ihm die Hand hin. In zwei Worten sprach sie aus, was jeder fühlte. «Viel Glück», sagte sie in scharfem Ton und ging dann weiter.
    Als der Zug im Bahnhof einfuhr, war George erleichtert. Eilig sprang er auf. Helen White kam die Main Street entlanggerannt, sie hoffte, noch ein Abschiedswort mit ihm zu wechseln, doch er hatte schon einen Platz gefunden und sah sie nicht. Als der Zug anfuhr, lochte Tom Little ihm die Fahrkarte und grinste, machte aber, obwohl er George gut kannte und wusste, zu welchem Abenteuer er da aufbrach, keine weitere Bemerkung. Tom hatte tausend George Willards gesehen, wie sie ihre Stadt verließen, um in die Großstadt
zu gehen. Für ihn war das ein ziemlich alltägliches Ereignis. Im Raucherwagen saß ein Mann, der Tom gerade auf einen Angelausflug in die Sandusky Bay eingeladen hatte. Tom wollte die Einladung annehmen und die Einzelheiten besprechen.
    George blickte den Wagen auf und ab, um sicher zu sein, dass auch niemand hersah, dann zog er seine Brieftasche heraus und zählte sein Geld. Er war von dem Wunsch erfüllt, nicht wie ein grüner Junge zu erscheinen. Die beinahe letzten Worte, die sein Vater an ihn gerichtet hatte, betrafen sein Benehmen, wenn er in die Großstadt kam. «Sei schlau», hatte Tom Willard gesagt. «Hab immer ein Auge auf das Geld. Sei wach. So läuft das. Niemand soll dich für einen Grünschnabel
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