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Willy Brandt und Helmut Schmidt: Geschichte einer schwierigen Freundschaft (German Edition)

Willy Brandt und Helmut Schmidt: Geschichte einer schwierigen Freundschaft (German Edition)

Titel: Willy Brandt und Helmut Schmidt: Geschichte einer schwierigen Freundschaft (German Edition)
Autoren: Gunter Hofmann
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der 50. Jahrestag des Überfalls auf Polen am 1. September 1939. Zum Ausblick auf ein anderes Europa geriet sie ihm, das ihn spürbar an die Hoffnungen seiner Jugend erinnerte.
    Der geschichtlichen Wahrhaftigkeit werde es nicht gerecht, so Brandt, – den «Historikerstreit» von 1986 erwähnte er nicht ausdrücklich – wenn man «Stalin ins Feld führt, um Hitler zu entlasten oder gar zu rechtfertigen». Und dann: «Nicht irgendwie und durch irgendwen wurde der Zweite Weltkrieg begonnen, auch nicht nur im mißbrauchten ‹deutschen Namen›. Über Kurzsichtigkeiten nach 1918 läßt sich viel sagen – eindeutig bleibt die hitlerdeutsche Schuld. Der neue Krieg, unter dem Deutschland selbst so schwer leiden sollte, war schon vor dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 geplant, vorbereitet, gewollt und hätte sich allenfalls durch vorweggenommene allseitige Kapitulation vermeiden lassen.» Auf Ausreden, Polen sei nicht überfallen, sondern mit einem «Gegenangriff überzogen» worden, ließ er sich nicht einen Augenblick ein; nein, verbürgt ist, «daß der sogenannte Führer vor seinen Generälen prahlte, er werde für die Rechtfertigung des Angriffs sorgen – ‹gleichgültig, ob glaubhaft›». Zu den «hausgemachten Vorwürfen» rechnete er auch den fingierten Angriff auf den Sender Gleiwitz – nicht weit entfernt «von dem damals kaum bekannten Ort namens Auschwitz», der zum Ort des fabrikmäßigen Massenmordes wurde. «Jener Ort hat uns, die gebrannten Kinder der Menschheit, gelehrt, daß die Hölle auf Erden geschaffen werden kann – sie wurde geschaffen.» Wie das enden würde, auch für das eigene Volk, was am 1. September vor fünfzig Jahren begann, habe er nicht geahnt. Die Zeitung in Norwegen, für die er seinerzeit – Brandt war bereits ausgebürgert – schrieb, habe nach der englischen und französischen Kriegserklärung am 3. September in einem Extrablatt geschrieben, es müsse sich noch zeigen, ob der «Nervenkrieg» eine neue Phase erreiche oder ein «Weltkrieg» begonnen habe. Es zeigte sich.
    Worauf er mit alle dem wie so oft schon hinauswollte, waren die «Lehren aus der Geschichte»: Man müsse die Freiheit «beizeiten mit großem Einsatz» verteidigen, ein mündiges Volk dürfe die Macht nicht in die Hände von Verrückten und Verbrechern fallen lassen. Die andere Lehre aber, nach vorne gerichtet – «mit noch größerer Hingabe für Europa arbeiten, ohne damit verstaubte Vorstellungen von deutscher Führung zu verbinden». Ein Bild von Europa hatte er vor Augen, das sich von dem der seit 1950 pragmatisch zusammenwachsenden «West-Europäschen Gemeinschaft» unterschied.
    Das aber hatte Schmidt verinnerlicht. Für ihn fing Europa nicht in der Weimarer Republik an, sondern mit Churchills Rede. Unabhängig machen wollte er Europa nur von wechselhaften amerikanischen Konjunkturen – und schon gar von einem Amerika, das Europa links liegen lässt. Aber ein Gaullist wurde deshalb aus Schmidt ganz gewiss nicht.
    Inzwischen sei es an der Zeit, riet hingegen Brandt ohne zu zögern, «an Gesamteuropa zu denken». Schon in den Vorstellungen des deutschen Widerstandes, besonders des Kreisauer Kreises, sah er dieses Europa begründet, 1925 nahmen die Sozialdemokraten «die Vereinigten Staaten von Europa» in ihr Programm auf. Ein «faszinierender Prozeß der Neugestaltung», witterte er Morgenluft, führe nun näher an ein solches größeres Europa heran. Staaten auf Rädern werde diese künftige europäische Hausordnung nicht vorsehen, keine Vertreibung, keine Trennmauer, keine Regierungen, die von ein paar Dutzend Divisionen abhängiger sind als von der Verständigung mit dem eigenen Volk.[ 7 ]
    Das war es, was er schon 1981 in Budapest ahnte und andeutete, jetzt wurde es unaufhaltsam Wirklichkeit, noch vor dem Mauerfall. Schmidt «träumte» auch, aber anders – nur mit solchen konkreten, pragmatischen, operativen Schritten wie der gemeinsamen Währung, davon war er überzeugt, war Schritt für Schritt eine Integration Europas über die Freihandels- und Wirtschaftsgemeinschaft hinaus zu verwirklichen. Brandt entdeckte die Konturen eines «europäischen Hauses», das die nüchterne Wirtschafts- und Währungsunion, sogar die politische Union mitdachte, aber hinter sich ließ. Imaginierte er ein Europa vom Atlantik bis zum Ural, wie de Gaulle es anvisierte? Ein autonomeres «Gesamteuropa»? Es bleibt eine Hypothese, aber Willy Brandt suchte wohl etwas, was seine Wurzeln hatte in den Jahren
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