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Willy Brandt und Helmut Schmidt: Geschichte einer schwierigen Freundschaft (German Edition)

Willy Brandt und Helmut Schmidt: Geschichte einer schwierigen Freundschaft (German Edition)

Titel: Willy Brandt und Helmut Schmidt: Geschichte einer schwierigen Freundschaft (German Edition)
Autoren: Gunter Hofmann
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der Weimarer Republik – und was ihn und Helmut Schmidt ein Stück weit hätte auseinander führen können.
    Abschiede   Mit zweierlei Vermächtnissen verabschiedeten sie sich endgültig von der politischen Bühne. Ein sichtlich erholter, ausgeglichener Redner trat am 10. September 1986 ans Rednerpult im engen Bonner Wasserwerk, das seit dem Vortag als Ausweichquartier für den alten Parlamentssaal diente. Von der Tribüne aus konnte man den Rheinschiffen zusehen, die Moby Dick mit ihren Schaufelrädern zog mehrmals müde vor den Fenstern flussauf und flussab. Jeder Platz war besetzt, alle wollten beim Abschied dabei sein. Einhundertzwanzig Minuten benötigte Helmut Schmidt für seine letzte Rede, die längst in Schulbüchern Eingang gefunden hat – auf CDs und Videos kann man seine Deutschstunde bis heute verfolgen. Es gehe um eine Haushaltsdebatte, also die Gelegenheit, dozierte er, um nach guter alter Sitte mit der Regierung insgesamt ins Gericht zu gehen. Das sei «selten bequem» kündigte er seinem Nachfolger Helmut Kohl freundlich an.
    Vom Vorwurf des Kanzlers wollte er sprechen, er habe ein schlecht bestelltes Haus mit viel Arbeitslosen im Lande hinterlassen. Was man als neuer Kanzler halt so sagt. Eine willkommene Gelegenheit für Schmidt bot das, an die zwei Ölpreis-Explosionen in den siebziger Jahren zu erinnern, an die keynesianische Reaktion Washingtons auf die Wirtschaftskrise, an die hohen realen Zinsen für Investitionen, den gesunkenen Dollarkurs. Nein, in der Summe sah er keinen Grund, Kohl Bodengewinne bei der Haushaltskonsolidierung zu bescheinigen. Und die Arbeitslosigkeit, die er drosseln wollte, steige. Aus dem Ärmel schüttelte er das scheinbar, er brauchte seine Notizen nicht.

    Abschied von der Bühne, die er liebte – Helmut Schmidt am 10. September 1986 im Bundestag (Wasserwerk).
    Aber das war nicht alles: Insbesondere eine klare Position Kohls zur strategischen Verteidigungspolitik – der Streit handelte von Reagans SDI-Projekt, einem Raketenabwehrsystem im Weltraum – vermisste der Kanzler a. D. Damit eile es, bedrängte er seinen Nachfolger, wir Deutsche «leben auf dem europäischen Schauplatz, wir sitzen auf dem Präsentierteller». Wenn überhaupt jemand, dann müssten wir an einer vertraglich vereinbarten, gleichgewichtigen Abrüstung interessiert sein. Nur ein Träumer könne meinen, «die Sowjetunion ließe sich totrüsten». Aber die Kritik an Kohl zielte auf mehr: Den amerikanischen Freunden gegenüber vertrete die Regierung die deutschen Interessen nicht deutlich genug. Schmidt: «Eingetreten ist ein weitgehender Gewichtsverlust der Bundesrepublik; sie hat sich unter Ihrer Regierung vorübergehend von der Einflußnahme auf die westliche Gesamtpolitik verabschiedet.» Freund und Partner der USA müsse die Bundesrepublik sein, nicht «Klient», sie könne sich nicht behandeln lassen wie ein «abhängiger Schutzbefohlener».
    Sichtlich genoss Schmidt die Zwischenrufe, wie in der guten alten Zeit. Der Mann, der einmal gesagt hatte, Politik sei ein «Kampfsport», bemerkte belustigt, er wisse, dass eine parlamentarische Demokratie «keine harmonische oder diplomatische Veranstaltung» sei. Aber es bleibe «der wichtigste Ort der Auseinandersetzung».
    Auf sein Herzensanliegen freilich kam Schmidt erst zum Schluss zu sprechen, die Frage nach der «geistig-moralischen Führung». Geistige Führung erwarte er von den Wissenschaften, Schulen, Universitäten, in Kunst und Literatur, von Kirchen und Religionen. Im pluralistischen Staat muss, «wie mir scheint, jede Bundesregierung sich in geistiger und moralischer Hinsicht beschränken auf das Grundgesetz, auf unsere Grundrechte, unsere Grundfreiheiten». Politische Orientierung, politische Führung, das allerdings verlange er von jeder Regierung: mit Standfestigkeit, Zivilcourage, Kompromissbereitschaft, also mit einem «politischen Pragmatismus in moralischer Absicht».
    Seine summa – «wir Deutschen bleiben ein gefährdetes Volk, das der politischen Orientierung bedarf» – leitete sich daraus ab. Das Leiden der Teilung könnte dazu führen, dass die «ohnehin gegebene deutsche Neigung zum gefühlsmäßigen Überschwang» gefährlich durchbreche. Deshalb bedürfen wir Deutschen, wie Schmidt meinte, besonders der «abwägenden Vernunft, der politischen Ratio als einem notwendigen Gegengewicht in der Ausbalancierung unserer nationalen, sagen wir genauer, nationalstaatlichen Anomalie». «Teilung gleich Anomalie.»
    Auch
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