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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Hans-Joachim Noack
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wie irgend möglich öffnet. Welche Möglichkeiten, fragt er sich, gäbe es sonst, sie vor Verkrustung und schleichender Auszehrung zu bewahren?

    «Gemeinschaft stiften» und «Brücken bauen»! Was Willy Brandt neben der grenzüberschreitenden Entspannungspolitik bald auch im Inneren des Landes den Ruf eines in seinem Gewerbe eher seltener anzutreffenden Philanthropen einträgt, fällt ihm dagegen im Privatleben offenbar außerordentlich schwer. «Von den Genen her Einzelgänger», wie ihn Helmut Schmidt charakterisiert, zeigt sich der Kosmopolit, der die Welt zu umarmen imstande ist, im Persönlichen oft erstaunlich spröde, und das gilt selbst für den Umgang mit den Nächsten.
    Vermitteln in seiner ersten Zeit als Berliner Bürgermeister noch flotte und reichlich bebilderte Homestorys die Illusion einer glücklichen Familie, zieht sich der Außenminister und Bundeskanzler später in seiner Bonner Dienstvilla häufig in eine eigens umgebaute Hausmeisterwohnung zurück. Dort sitzt er, wie einst der junge Herbert Frahm in der engen Lübecker Dachkammer, einsam über seinen Büchern.
    Was geht da in dem auf internationalem Parkett äußerst gewandten Willy Brandt vor, wenn man mit ihm einerseits, wie es sein zweiter Sohn Lars, ein freischaffender Künstler, erlebt, durchaus «großen Spaß» haben konnte, während andererseits «hinter der nächsten Ecke immer auch die Schwermut lauerte»? Ist dafür tatsächlich nur das in frühen Jahren augenscheinlich erheblich lädierte Urvertrauen verantwortlich? Sooft es bei ihm um «Persönliches» gegangen sei, erinnert sich der erstgeborene Peter an diese selbst von seiner engsten Umgebung als rätselhaft lähmend empfundene Scheu, «fehlte ihm irgendwie was».
    Übereinstimmend beschreiben die beiden Brüder ihren Vater dennoch mit Sympathie. Um Differenzierung bemüht, zeichnen sie das Bild eines «Machtmenschen, der Mittel und Wege kannte, sich durchzusetzen, aber ein warmes Herz besaß» – und auch für den Dritten, den Schauspieler Matthias, gibt es «eigentlich nichts», das er ihm «nicht verzeihen» könne.

    Kränkungsanfällig, aber auch außerordentlich regenerationsfähig: Willy Brandt nach Herbert Wehners Moskauer Attacken im Herbst 1973.
    Willy Brandt selber öffnet dagegen zu seiner schwierigen Innenwelt nur selten einen Spalt weit die Tür. In «Links und frei» entsinnt sich der Autor, der als ehemaliger Journalist eitel genug ist, jeden der von ihm entwickelten politischen Gedankengänge für die Nachwelt sorgsam zu archivieren, seiner Bekanntschaft mit dem ebenfalls nach Skandinavien emigrierten berühmten Psychiater Wilhelm Reich und deutet in einigen oberflächlichen Sätzen sein zeitweiliges Interesse an einer professionellen «Seelenforschung» an. Das sei dann allerdings rasch wieder erlahmt. Auf solche Weise «die Entwirrung von Kindheitsproblemen zu versuchen», hakt er die Episode kurzerhand ab, habe er in seinem Fall nicht für angebracht gehalten.
    Als er das zu Papier bringt, ist er fast siebzig und hat sich inzwischen von seiner zweiten Frau getrennt. Die rücksichtsvolle und allseits beliebte Rut wird Jahre später in ihren überaus dezent formulierten Memoiren weniger das Scheitern der Ehe an sich als das mit der Scheidung verbundene kränkende Schweigen ihres einstigen Mannes beklagen.
    Dem offenkundig als persönliche Einengung empfundenen Familienleben entronnen, widmet sich der mittlerweile auch noch zum Präsidenten der Sozialistischen Internationale gekürte SPD-Chef umso intensiver der Partei. Laut Egon Bahr seit eh und je sein «zentraler Lebensinhalt», führt er den «Verein» trotz der zunehmenden Spannungen, die sich insbesondere aus dem von Schmidt eisern verfochtenen Nato-Doppelbeschluss und einem immer heftiger dagegen aufbegehrenden linken Flügel ergeben, mit beträchtlichem taktischen Geschick – und mehr: Je schärfer die Kontroversen, desto ausgeprägter der Wille, seinen an sich selbst gestellten Anforderungen zu genügen.
    Wenn ihm die Antipoden den Vorwurf machen, er bringe der jeweils anderen Seite zu großes Verständnis entgegen, verunsichert ihn das kaum. Er ist erfahren genug, um zu wissen, dass ihn jene, die sich um den Kanzler scharen, ebenso brauchen wie die innerparteilichen Opponenten, und die Vorstandswahlen belegen das schließlich ja auch. Um gute Ergebnisse muss der ehedem seines fehlenden «Stallgeruchs» wegen öfter schroff abgewiesene Brandt nicht mehr bangen – vielmehr setzt jetzt er in der sich
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