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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Hans-Joachim Noack
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Schutzmächten zu lösen, agiert nach seinem Aufstieg der Außenminister und Kanzler: Die von Konrad Adenauer durchgesetzte Westbindung bleibt für ihn in jeder Phase sakrosankt.
    Denn trotz seines Glaubens an die unübersehbare Vielfalt der Möglichkeiten gibt es für Willy Brandt Grenzen – die «großen Linien» will der SPD-Vorsitzende, wie sich insbesondere in den turbulenten siebziger Jahren zeigt, gewahrt wissen. Die Partei dürfe sich «nicht zu weit von der Wirklichkeit entfernen», lautet eine seiner Maximen, doch liegt ja gerade darin die Crux. Zur Realität gehört schließlich auch, dass die Sozialdemokraten einerseits Regierungsverantwortung tragen, andererseits aber immer öfter darüber klagen, den Verbleib an der Macht mit einem rapiden Identitätsverlust bezahlen zu müssen.
    Ein Spannungsverhältnis, in dem sich der SPD-Chef «wie im Schraubstock eingeklemmt» vorkommt. Am Ende seiner achteinhalbjährigen Ära wird Helmut Schmidt keinen Hehl daraus machen, dass er sich vor allem von ihm im Stich gelassen gefühlt habe – eine Kritik zuvörderst an der «schlappen Führung» der Partei, die der Vorsitzende energisch zurückweist. Welche Fälle der scheidende Kanzler denn meine, faucht er, in denen er ihm nicht gelegentlich bis an die Grenze der Selbstachtung gehend die nötigen Mehrheiten besorgt habe!
    Den Kern ihres Zerwürfnisses bildet dabei insbesondere die Frage der nuklearen Nachrüstung. Dass sich «dieses Teufelszeug» nicht «zum Geschacher» eigne, ist Brandt seit langem klar, in seinen offiziellen Bekundungen bevorzugt er dann aber doch eher den Kompromiss. So dürfen sich die Regierung wie die inzwischen mächtig rumorende pazifistische Bewegung gleichermaßen auf ihn berufen – und wozu das führt, zeigt sich noch ein Jahr nach dem Abgang Schmidts auf einer Kundgebung in Bonn. Dort steht der Friedensnobelpreisträger gelackmeiert in einem Bombenhagel von Eiern und Feuerwerkskörpern.
    Der Vorsitzende selbst erinnert sich an diese Periode seines politischen Wirkens als eine Zeit, in der häufig «auch eine gewisse Leidensbereitschaft gefragt war», und welchem Druck er sich damals ausgesetzt fühlt, hält er nicht lange verborgen. Er habe sich seine Zustimmung zum Nato-Doppelbeschluss, teilt er der verblüfften Öffentlichkeit unverblümt mit, lediglich «gegen seine innerste Überzeugung abgerungen».
    Ein Opfergang also und darüber hinaus ein weiterer Beleg dafür, wie wenig sich Brandt der reinen Lehre verschreibt. Er will nicht schuld daran sein, dass die SPD von der Macht verdrängt wird, zugleich aber den Pazifisten und Ökologen die Hand reichen, weshalb er sich bis zum Sturz Schmidts auf eine Hinhaltetaktik versteift.
    Umso brachialer dann die Abrechnung mit dem innerparteilich bald isolierten Exkanzler auf dem «Anti-Raketen-Konvent» 1983 in Köln, wo der Vorsitzende in der Pose des Siegers auftritt, der seine Entfesselung augenscheinlich genießt. Frei von Sachzwängen, kann er als letztverbliebener «Troikaner» die SPD wie nie zuvor nach seinem Bilde formen, und von dieser so kaum noch erwarteten Unabhängigkeit macht er reichlich Gebrauch.
    Zustatten kommt ihm dabei sein im Laufe der Jahre gewachsenes internationales Ansehen, das ihn im Spiegel der Medien auf allen Kontinenten zum am meisten beachteten Sozialdemokraten der Welt erhebt. Schon seit Mitte der Siebziger unentwegt auf Tour, lebt er mit Beginn der Achtziger phasenweise fast nur noch aus dem Koffer. Von Indira Gandhi über Fidel Castro und Deng Xiaoping bis zu Jassir Arafat und Nelson Mandela, der den vormaligen Friedenskanzler sichtlich ergriffen als einen seiner «größten Helden» umarmt, gibt es kaum einen Politiker von Rang, den er nicht kontaktiert. Sein besonderes Interesse erregt dabei der neue Star im Kreml, Michail Gorbatschow, den er früher als alle anderen Bonner Granden besucht.
    In den heimischen Gefilden bemüht sich das «geistige Oberhaupt der deutschen Sozialdemokratie», wie ihn der inzwischen zum Juso-Chef aufgestiegene Gerhard Schröder tituliert, um die «Rückgewinnung der mit dem Abgang der Liberalen verlorenen Machtperspektive». Die Entwicklung der «Grünen» verfolgt er mit ersichtlichem Wohlwollen; sosehr sich der überzeugte Integrator gewünscht hätte, die vom Establishment enttäuschte Protestgeneration unter dem eigenen Dach versammeln zu können, so nonkonformistisch denkt er nun über andere Lösungen nach: Warum, startet er den ersten Versuchsballon, einem «Verein» die
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