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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Hans-Joachim Noack
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zusehends verändernden SPD die Akzente.
    Der Friedensnobelpreis und das weltweite Renommee, das der Vorsitzende seiner auf Aussöhnung angelegten Ostpolitik verdankt, verleihen ihm in seinen Reihen bald einen Nimbus, den sein Naturell noch verstärkt. Jeder Dünkel ist ihm fremd, aber er lässt sich auch von niemandem vereinnahmen. Weder will er «Gottvater» spielen, wie ihn etwa die Juso-Chefin Heidemarie Wieczorek-Zeul mehr ehrerbietig als spöttisch nennt, noch eignet er sich im Wehner’schen Sinne zum Parteisoldaten.
    Willy Brandt sui generis: Wie als Privatmann nimmt er sich die Freiheit, seine Schwankungsbreite zwischen Nähe und Distanz auch in der SPD auszuleben und ihr vor allem seine politische Philosophie zuzumuten. Dass er im Laufe der Jahre gelernt habe, «an die Vielfalt und den Zweifel zu glauben», weshalb ihm apodiktische Bekundungen zusehends suspekt seien, hat er bereits bei seiner Nobelpreisrede zu Protokoll gegeben, und daran lässt er sich messen: «Heute gravitätisch zur letzten Wahrheit zu erklären, was sich morgen womöglich als falsch herausstellt», soll ihm kein Genosse abverlangen dürfen.
    Folglich bekennt er sich fast schon aufreizend gelassen zu einem kräftigen Sowohl-als-auch – in den Ohren des Kanzlers wie seines Fraktionschefs zumindest dort ein schwer erträgliches Plädoyer für ein anything goes , wo es um notwendige Richtungsentscheidungen geht. Beim Nato-Doppelbeschluss etwa zugunsten einer eventuell unvermeidlichen Nachrüstung seine Stimme zu erheben, um sie gleichzeitig zu verdammen, erscheint ihnen ähnlich widersinnig wie die Einladung an die Bannerträger aller erdenklichen Weltanschauungen, ihre häufig kruden Ideen in der SPD auszubreiten.
    Aus der Warte Brandts, den Schmidt gelegentlich als einen «Romantiker» abzuqualifizieren versucht, eine fleißig gestreute, bewusst verfälschte Wiedergabe seiner Prinzipien. Statt inhaltsleerer Beliebigkeit das Wort zu reden, halte er für dringend geboten, verengte Horizonte zu erweitern und einem ständigen Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse mit ebenso beharrlicher Lernbereitschaft zu begegnen. Stupide verteidigten «Wahrheitsbesitz» in Frage zu stellen, bedeutet nach seinem Verständnis noch längst nicht, eine in Jahrzehnten gefestigte Grundüberzeugung aufzugeben.
    Für die steht ja immerhin auch seine Biographie. Als «norddeutscher Arbeiterjunge» im traditionellen sozialdemokratischen Milieu aufgewachsen, hat er genügend Stadien durchlaufen – vom linksradikalen Heißsporn mit anfänglichen Sympathien für eine geläuterte Sowjetunion über die Metamorphose zum strammen Antikommunisten und zuletzt Entspannungsstrategen –, um «mit den Erfahrungen anderer», wie er leicht sarkastisch hinzufügt, «konkurrieren» zu können. Obschon er bei diesen Aufbrüchen zu neuen Ufern manche «Umwege» gemacht habe, sei er «Gott sei Dank niemals völlig in die Irre gegangen».
    Zu den wichtigsten Konstanten seiner Vita gehört denn auch eine Erkenntnis, die sich während des Spanischen Bürgerkriegs herausgebildet hat. Seit er dort über den wahren Charakter des Stalinismus belehrt worden ist, hält er sich alle «theoretisch begründeten Weltbeglückungsformeln», die gleichsam naturgesetzlich ins Desaster führen müssen, strikt vom Halse.
    Der im Laufe der Zeit immer unverhohlener zum Skeptiker heranreifende Willy Brandt, analysiert der Politologe Franz Walter, habe bereits in jungen Jahren in zu viele von Ideologien aufgerissene Abgründe geblickt, «um noch an irdische Paradiese zu glauben» – weshalb er sich auch in der Praxis eher tastend voranbewegt. «Kleine Schritte in die richtige Richtung» sind ihm allemal lieber, als sich in Abenteuer zu stürzen, deren Ausgang sich schwerlich prognostizieren lässt, und das gilt vor allem für seine im Nachhinein als «visionär» gepriesene Ostpolitik.
    Das sei sie nie gewesen, bescheidet sich der Elder Statesman im Rückblick, sondern vielmehr der Versuch, den nach dem Berliner Mauerbau kaum noch zu ertragenden Status quo Zug um Zug durch einen «Modus Vivendi» zu ersetzen – «und zwar ohne dabei zu wackeln». Von einem Ausverkauf deutscher Interessen, den nationalkonservative Hardliner bei seinen behutsamen Bemühungen wittern, das Verhältnis zu den Staaten des Warschauer Pakts zu ändern, kann deshalb nie die Rede sein. Und wie der Regierende Bürgermeister 1961 nicht im Traum daran denkt, seine bedrängte Teilstadt aus der Verankerung mit den alliierten
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