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Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)

Titel: Willy Brandt: Ein Leben, ein Jahrhundert (German Edition)
Autoren: Hans-Joachim Noack
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kalte Schulter zeigen, mit dem die SPD «ja zumindest ebenso viel verbindet wie mit denen, die sich gerade vom Acker gemacht haben»?
    Ob es einem schmecke oder nicht – hier sei «ein neuer, nicht bequemer, auch noch nicht klar zu erkennender, zu beschreibender Faktor unseres politischen Lebens sichtbar geworden», robbt sich Brandt bereits am Tage des Bonner Regierungswechsels auf die für ihn typisch vage Art an das heikle Thema heran, doch das Gros der Parteifreunde schüttelt indigniert die Köpfe. Noch fünf Jahre später wird sich der Kanzlerkandidat Johannes Rau den mehr oder minder offen geäußerten Empfehlungen seines Vorsitzenden schroff versagen, eine rot-grüne Koalition auf Bundesebene wenigstens in Erwägung zu ziehen.
    So endet Brandts Karriere als SPD-Chef im Streit. Offiziell stellt er sein Amt zur Verfügung, weil ihn die ablehnende Reaktion auf die von ihm vorgeschlagene neue Sprecherin empört – sehr viel wesentlicher aber ist für ihn, wie er erst im Todesjahr durchblicken lässt, «in einer ja keineswegs nebensächlichen strategischen Frage» die aus seiner Sicht erforderlichen Anstöße nicht mehr mit dem nötigen Nachdruck geben zu können. In der Zeit, die ihm noch bleibt, hat er im Übrigen eine ungleich wichtigere Aufgabe zu erfüllen: Dass sich die über die Zukunft Deutschlands zutiefst zerstrittenen Sozialdemokraten im Sommer 1990 schließlich doch noch zur Einheit bekennen, ist vor allem sein Verdienst.
    Willy Brandt in seiner letzten großen Rolle. Der Emigrant, «Kalte Krieger», Entspannungspolitiker und Weltbürger entpuppt sich in einer Unbefangenheit als Patriot, die den nachgeborenen Internationalisten um Oskar Lafontaine schier den Atem verschlägt. Um den vor allem vom neuen Kanzlerkandidaten befehdeten Einigungsvertrag in trockene Tücher zu bringen, schreckt er nicht einmal vor der Drohung zurück, seinen Ehrenvorsitz niederzulegen.
    So manchem Genossen erscheint es da, als lerne er den entflammt am Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten arbeitenden Veteranen überhaupt zum ersten Mal richtig kennen. Noch Mitte der achtziger Jahre hatte Brandt den Glauben an die Wiedervereinigung selbst als «Lebenslüge» bezeichnet – und jetzt dieses alle Zweifel verdrängende Engagement! Der nun bei einigen aufkommende Verdacht, der einstige «Frontstadt-Kommandant» habe sich klammheimlich ins konservative Lager verdrückt, beruht aber letztlich auf einer Fehlinterpretation seiner früheren Reden. In denen hatte er lediglich davor gewarnt, irgendwelchen Träumen von einem «Zurück zum Reich oder zu den alten Grenzen» anzuhängen.
    Tatsächlich darf er darauf verweisen, den Fortbestand der Nation – in welcher Form auch immer – nie in Frage gestellt zu haben, eine Behauptung, der nun selbst die Unionsparteien nicht widersprechen. Ganz im Gegenteil: In den entscheidenden Wochen der Wende zählt insbesondere der regierende Helmut Kohl den Vorgänger seiner Entspannungsbemühungen wegen ausdrücklich zu den bedeutsamsten Wegbereitern der Einheit, und der Sozialdemokrat bedankt sich dafür. Um den Amtsinhaber – «meinen Kanzler», wie er ihn begrüßt – standesgemäß empfangen zu können, wird er noch auf dem Krankenbett den besten Anzug aus dem Schrank hervorholen.

    Am Tag nach dem Mauerfall am Brandenburger Tor: Brandt wird wie einst in Erfurt mit «Willy»-Sprechchören gefeiert. «Erst waren nur wenige Menschen zu hören», erinnert sich der norwegische Fotograf William Mikkelsen, den Brandt zu sich aufs Podium geholt hat, «aber schnell stimmte die ganze Menge mit ein.»
    Mit der «Neuvereinigung» schließt sich für Brandt ein Kreis. Die «deutsche Sache» hat ihm seit eh und je am Herzen gelegen, und schon der gerade aus der Emigration heimgekehrte Noch-Norweger versucht ihr erstaunlich pragmatisch gerecht zu werden. Wer die Zukunft im Blick habe, doziert der junge Presseoffizier, möge nicht allzu sehr in der Vergangenheit «herumstochern»; für einen Ausgebürgerten und Verfemten eine verblüffend nüchterne Empfehlung. Egal, ob es sich damals um die zahllosen kleinen Mitläufer der Nazis oder später um jene der SED handelt – die «Aussöhnung der Deutschen mit sich selbst» ist ein Kernstück seiner Politik.
    «Zustände nicht bloß zu erleiden, sondern zu gestalten» und Prozesse mit der nötigen Lern- und Veränderungsbereitschaft zu begleiten, hält er vor allem in einer Phase für unerlässlich, in der sich die in viereinhalb Jahrzehnten erstarrte
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