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Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)

Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)

Titel: Willkommen auf Skios: Roman (German Edition)
Autoren: Michael Frayn
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mitgebracht hatte. Er würde die bewährten und erprobten Geschichten erzählen.
    Und dann der Vortrag. Die ihm erwartungsvoll zugewandten Gesichter. Die überschwengliche Einführung, eine Schilderung seiner Laufbahn, der paraphrasierte Lebenslauf, den Vicki ihnen geschickt hatte, gekürzt auf eine handhabbare Länge, wie immer unter Auslassung seiner wichtigsten Publikationen und Posten. Sein bescheiden gesenkter Kopf, während er sich wieder einmal das alles anhörte und dabei zum Vorschein kam, wie die Jahre seine hohe Stirn über die Kuppe seines Hauptes verlängert hatten.
    Der Applaus, als er zum Rednerpult geht und den Text seines Vortrags aufschlägt …
    Der Vortrag! Hatte er ihn dabei? Er tastete noch einmal in seinem Handgepäck, nur um sicherzugehen. Ja, da war er, Gott sei Dank. Auf Reisen hatte er den Vortragstext immer im Handgepäck. Er und sein Koffer waren im Lauf der Jahre zu oft getrennt worden, als dass er ein Risiko eingehen wollte. Zahnbürsten und Schlafanzüge konnten ersetzt werden; der Vortrag war Teil seiner selbst, Fleisch von seinem Fleisch, Gebein von seinem Gebein. Er nahm ihn aus der Tasche, nur um sich noch einmal zu vergewissern. Dieselbe abgewetzte, alte braune Mappe, die so viele tausend fader Luftmeilen mit ihm gereist war, unverwechselbar sein eigen dank des in Melbourne erworbenen Rotweinflecks und der verschmierten Überreste eines kleinen tropischen Insekts aus Singapur. Wie üblich würde er ein paar einführende Worte hinzufügen, um die besondere Relevanz des Vortrags zu dieser Zeit an diesem Ort zu betonen, doch der Text als solcher bestand aus dem Material, das wie sein Haupt im Lauf vieler Jahre seine jetzige Form angenommen hatte. Die Früchte lebenslangen Nachdenkens und Studierens waren auf diesen Seiten konzentriert, die Ausdrucksweise schrittweise verfeinert und, wie alles menschliche Wissen, den aktuellen Umständen angepasst. Die sorgfältig formulierten Sätze waren so vertraut und beruhigend wie der Weinfleck und das tote Insekt. »Die vielleicht bedeutendste Herausforderung, der wir uns heute gegenübersehen … Die Hoffnungen und Befürchtungen der Menschheit … Innerhalb eines umfassenden Gefüges gesellschaftlicher Verantwortung …«
    Er sah die Worte vor sich, wie sie im warmen Lichtkegel der Lampe am Rednerpult zu ihm aufblicken würden wie wohlerzogene Kinder zu ihrem liebenden Vater. »Diese Probleme müssen frontal angegangen werden … Und an dieser Stelle muss zur Vorsicht gemahnt werden …« Er hörte sich versiert, dennoch scheinbar spontan sprechen. Die kleinen improvisierten Varianten und Nebenbemerkungen. Das Gelächter. Der ziemlich lange Applaus am Schluss. Worte der Wertschätzung seitens des Gastgebers – »Anregung zum Nachdenken, voller neuer Einsichten, faszinierend« –, vielleicht nicht alle völlig unaufrichtig …
    Trotzdem, warum tat er es immer wieder? Wenn er doch in seinem Büro im Institut sitzen und ernsthafte wissenschaftliche Arbeit leisten konnte. Sich bemühen konnte, die Forschungsergebnisse jüngerer Rivalen zu verstehen, die ein eigenes, unverständliches neues Vokabular erfunden hatten, oder vor der nächsten Sitzung des Verwaltungsausschusses die Abrechnungsentwürfe des Instituts zu begreifen oder das heillose Durcheinander zu sortieren, zu dem das Manuskript seines neuen Buches geworden war.
    Doch statt dessen war er wieder hier, in acht Kilometer Höhe, ein Glas Champagner in der Hand. Warum, warum, warum?
    Natürlich erfüllte es ihn durchaus mit Befriedigung, Dr. Norman Wilfred zu sein. Nur aufgrund dessen, dass er war, wer er war, wurden ihm von anderen erarbeitete, gewichtig formulierte Dokumente zur Unterschrift vorgelegt. Sein Rat und sein Geschick als Vorsitzender waren geschätzt. Sobald die Leute seinen Namen hörten, wussten sie genau, was auf sie zukam. Sie waren nie enttäuscht. Sie erwarteten Dr. Norman Wilfred, und sie bekamen Dr. Norman Wilfred.
    Und wenn es Vorteile hatte, Dr. Norman Wilfred zu sein, dachte er, als ihm die Stewardess Champagner nachfüllte, so hatte er sie weiß Gott verdient. Er war nur langsam und durch Hartnäckigkeit und Fleiß, Gedanke für Gedanke, Ansicht für Ansicht, Stelle für Stelle, zu dem geworden, der er war. Unterwegs war er häufig enttäuscht worden, hatte viele Rückschläge, Abfuhren und Kränkungen erlitten; oft hatte er am Morgen in den Rasierspiegel geschaut und gesehen, wie jemand, der ihm nicht recht gefiel, zurückblickte. Auch jetzt war nicht alles ein
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