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Eiskalte Versuche

Eiskalte Versuche

Titel: Eiskalte Versuche
Autoren: McCall Dinah
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1. KAPITEL
    E r war dem Tod geweiht.
    Frank Walton hegte diesen Verdacht schon seit einiger Zeit, aber erst im vergangenen Monat waren seine Ahnungen bestätigt worden. Zwar hätte er gern länger auf dieser Erde verweilt, doch hatte er sein Schicksal angenommen, so wie er allen Widerwärtigkeiten des Lebens ins Gesicht geblickt hatte und mit ihnen fertig geworden war.
    Pack das Problem an und überwinde es. So lautete sein Leitspruch.
    Zumindest hatte er bislang so gehandelt. Aber die Auseinandersetzung mit seinem bevorstehenden Tod würde er auf später verschieben. Im Augenblick beschäftigte ihn nur eine Sache. Er hatte Heimweh – nach dem Land seiner Geburt. Er wollte die vertrauten Menschen wiedersehen, die Sprache und die Musik noch einmal hören. Ein letztes Mal, bevor es zu spät war.
    Aber er konnte nicht zurück. Für die, die ihn in seiner Vergangenheit gekannt hatten, war er bereits gestorben.
    Trotzdem musste er herausfinden, ob das, was er erreicht hatte, diese Entscheidungen wert gewesen war. Er verspürte das Bedürfnis, seinen Blickwinkel zu verändern. Vielleicht wusste er dann, ob er richtig gehandelt hatte.
    Zu diesem Zweck war er von Montana nach New York gekommen, nach Brighton Beach in Brooklyn. Mehr konnte er sich seinen Wurzeln nicht nähern, um noch einmal die Speisen zu schmecken, die er in seiner Kindheit gegessen hatte, und die Sprache des Landes zu hören, das seine Heimat gewesen war. Doch zwei Wochen in Brighton Beach hatten ihn wohl oder übel gelehrt, dass es zu spät war und er die Zeit nicht zurückdrehen konnte.
    Mit einem Lächeln auf den Lippen verließ Frank das kleine Café, in dem er zu Abend gegessen hatte. Beim Verzehr des heißen dunkelroten Borschtsch und des köstlichen Brotes waren Erinnerungen an die Mahlzeiten in ihm wach geworden, die seine Mutter ihm an den kurzen, klirrend kalten Wintertagen in seiner russischen Heimat vorgesetzt hatte.
    Obwohl mildes Septemberwetter herrschte, musste er nur die Augen schließen, und Eindrücke jener Zeit kehrten in allen Einzelheiten zurück: Er sah seinen Vater vor sich, der mit seiner Musette am offenen Feuer saß, zwischen den Liedern einen Schluck Wodka trank und selbst gedrehte Zigaretten rauchte, seine Brüder und Schwestern führten wilde Tänze auf und machten die hohen Sprünge der Kosaken nach, und über dem Getöse erscholl das Lachen seiner Mutter.
    Gott, ja. Dies alles hatte er hinter sich gelassen, für einen höheren Zweck. Zumindest hatte er das in den dreißig Jahren, die mittlerweile vergangen sein mochten, ein ums andere Mal vor sich selbst wiederholt. Nun, am Ende seiner Tage, begann er sich zu fragen, ob die Opfer, die er gebracht hatte, sinnvoll gewesen waren. Was hatte er erreicht? Was hatten sie zusammen erreicht?
    Drei Möwen kreisten kreischend über seinem Kopf und rissen Frank aus seinen Gedanken. Er blinzelte in die Nachmittagssonne, um die verwegenen Flugmanöver zu beobachten, mit denen die Vögel auf den Strand neben der Promenade niederstießen. In Montana gab es keine Seemöwen.
    Durch das gelichtete Haar schien warm die Sonne auf seinen Schädel. Er sog die frische Luft ein und atmete mit einem Seufzer wieder aus. Zum ersten Mal in seinem Leben wünschte er sich, als sterblicher Mensch an eine höhere Macht glauben zu können, denn bis dort, wohin er gehen musste, würden die Sonnenstrahlen nicht reichen.
    Ein paar Häuser weiter lehnte sich eine Frau aus einem Fenster im dritten Stock und schrie auf die Straße herunter. Ein Mann, der eben aus dem Eingang trat, blieb stehen und sah nach oben. Dann rief er etwas hinauf. Seine Rufe und die der Frau vermischten sich mit dem Brausen des Verkehrs, dem diffusen Stimmengewirr der Passanten und dem Lärm eines ganz normalen Werktages. Durch die Gitter auf dem Gehweg stiegen Dampfwolken hoch, die die kehligen Vokale und Konsonanten der russischen Sprache zu ihm hin zu tragen schienen. In Franks Ohren klangen diese Töne wie Musik. Er wollte zurückrufen – die Lieder seiner Jugend singen und tanzen, bis er erschöpft aufgeben musste. Aber diesen Teil seines Lebens hatte er vor zu langer Zeit hinter sich gelassen. Nicht einmal jetzt, da der Tod zum Greifen nah war, konnte er das Wagnis eingehen und sein wahres Selbst offenbaren.
    Er schob die Hände in die Taschen und schlenderte weiter die Straßen entlang, zufrieden, wenigstens an diesem Ort weilen zu dürfen.
    Wasili Rostow trat, vor dem Wind Schutz suchend, in eine Mauernische und zündete sich
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