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Wildnis

Wildnis

Titel: Wildnis
Autoren: Valentin Zahrnt
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langsam ab. Sie sprangen ihm nach ins Wasser. Jan griff in eine der Schlaufen. Hinter ihm krallte sich Anna ans Floß. Wo war Jenny? Jan zog sich höher und sah ihre Hände auf der anderen Seite in einer der Schlaufen.
    „Halt den Kopf tief“, schrie Anna ihn an und er ließ sich wieder absinken.
    Erst jetzt spürte er das kalte Wasser, das sie immer schneller davontrug. Die Sekunden vergingen, sie rauschten nah der Wand neben der brodelnden Gischt dahin. Jan blickte zurück. Etliche hundert Meter hinter ihnen sah er eine Gestalt seitlich an einen Fels gelehnt. Eine Welle nahm ihm die Sicht. Da war die Gestalt wieder. Mündungsfeuer blitzte auf. Ein Strudel. Das Floß stellte sich quer, ein Schrei, Jan wurde unter Wasser gesogen.
    Er kam wieder an die Oberfläche und schnappte nach Luft. Das Floß hatte gehalten. Sie trieben weg von der Wand, zur ruhigeren Flussmitte. Die scharfe Krümmung lag hinter ihnen, die Mondlandschaft war verschwunden.
    Anna robbte von hinten aufs Floß und half Jenny, sich in der Mitte emporzuziehen. Jan wälzte sich ganz vorne auf die Stämme. Ein eisiger Wasserschwall nach dem anderen schwappte über ihre zitternden Körper, doch das Floß trug sie dahin, zwischen den hohen, grauen Felswänden, auf denen das goldene Licht des Abends die Schattenlinien der Berge zeichnete.

Was danach geschah
    Halb bewusstlos vor Erschöpfung trieben sie irgendwann auf einen kleinen See. Ein Lagerfeuer brannte am Ufer. Sie schrien und paddelten mit steifgefrorenen Händen dem rötlichen Schein entgegen. Zwei Alpinisten halfen ihnen an Land, gaben ihnen warme Kleidung, legten sie in ihr Zelt und vergruben sie unter Schlafsäcken und Rettungsdecken. Noch in der Nacht landete ein Hubschrauber und brachte sie nach Anchorage ins Krankenhaus.
    Sie erholten sich rasch von der Unterkühlung und den leichten Erfrierungen. Nach drei Tagen psychologischer Betreuung und wiederholter Befragung durch das FBI ließ man Jan nach Hause fliegen. Anna und Jenny wurden weiter festgehalten, während die Staatsanwaltschaft eine Anklageerhebung wegen Körperverletzung respektive Totschlags prüfte. Zwei Wochen später wurden auch sie entlassen.
    Im gleichen Flug wurden die Überreste von Michael und Greg überführt. Michael war von einem Präzisionsgewehr einmal am Bein getroffen worden und hatte sich mit der letzten seiner Kugeln vermutlich eigenhändig in den Kopf geschossen. Für Greg konnte der gerichtsmedizinische Report die Todesursache nicht rekonstruieren, da selbst sein Schädel von den wilden Tieren zerbissen worden war.
    In der Höhle war ein Feuer gelegt worden, das sämtliche Einrichtung verbrannt hatte. Weder Fingerabdrücke noch DNA ließen sich sicherstellen. Vom Einsiedler und von Logann fehlte jede Spur.
    Die Stickerei mit den Mädchengesichtern hatte sich Jenny bei ihrer Flucht aus der Höhle unbewusst in die Hosentasche gesteckt. Sie stieß im Krankenhaus darauf. Die Porträts waren mit so feinen Fäden und so vielen Farbnuancen gestickt, dass sie wie gemalt aussahen. Das FBI identifizierte neben Sarah auch die beiden anderen Mädchen: Sie waren 2010 in Mexiko verschwunden. Hatte der Mörder mit ihnen einige Monate verbracht, ehe er sich Sarah zwei Jahre lang in einem Käfig gehalten hatte? Widerfuhr Laura das gleiche Schicksal? Lebte sie noch?
    Brian Wilken war nie aus dem Tal zurückgekehrt. Er und sein Flugzeug blieben verschollen. Das FBI untersuchte erneut die Finanzen seiner Gesellschaft Alaska Foresight Investment und kam zum Schluss, dass die meisten Gelder aus Mexiko geflossen waren. Die Auswertung des E-Mail-Verkehrs zwischen Michael und dem angeblichen Besitzer des Hauses deutete darauf hin, dass Mr. Wilken die Gruppe nicht selbst ins Chix-Tal gelockt hatte.
    Jan fiel es schwer, sein neues Leben in Berlin zu beginnen. Sein Germanistikstudium trat er nur auf dem Papier an. Wie hätte er nach diesen Erfahrungen in Vorlesungen sitzen, Hausarbeiten erledigen, Prüfungsfragen beantworten können? Die meiste Zeit verbrachte er zu Hause und las. Oder schrieb. Abends übte er auf der Gitarre, die ihm Michaels Eltern überlassen hatten. Doch ganz gleich, was er tat, in den Tiefen seines Bewusstseins liefen die Bilder Alaskas in einer Endlosschleife, ohne endlich an Schärfe einzubüßen. Eines Tages würde er ein alter Mann sein und alles verschwommen wahrnehmen, seine Gegenwart und seine Vergangenheit, nur jene verhängnisvollen Tage in Alaska waren für immer in sein Bewusstsein gestochen, so
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