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Wildnis

Wildnis

Titel: Wildnis
Autoren: Valentin Zahrnt
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ausgehen könnte, hatte keiner gedacht.
    Jenny machte sich auf den gefährlichen Weg. Auch sie verschwand um die Ecke. Bald darauf erklang ihr spitzer Schrei. Jan packte das Seil mit aller Kraft – und ließ es los, als der Schmerz in seine aufgerissenen Hände fuhr. Er bückte sich und griff erneut zu, doch der Zug war zu stark. Das Seilende wurde davongeschwemmt.
    Er hielt den Atem an. Unverständliches Geschrei. Das Seil ging in den Fluten unter. Stille, endlich Michael: „Wir haben sie!“
    Nach einer Weile meldete sich Michael erneut: „Soll ich mit dem Seil zurück?“
    Michael nochmals der Gefahr aussetzen? Dem Mörder noch mehr Zeit geben, zu ihnen aufzuschließen?
    „Ich schaffe das!“, rief Jan, nahm das Gewehr und setzte einen Fuß ins Wasser. Sofort drang es eisig in den Schuh. Der schräge Untergrund war glatt, aber nicht rutschig, das Felsband breit genug, um ungehindert zu gehen. Auch die Strömung würde ihm nichts anhaben, solange er weiterhin nur bis zu den Waden eintauchen musste.
    Behutsam arbeitete er sich bis zur Ecke vor. Das Wasser, das ihn bis eben auf den Fluss hinaus ziehen wollte, drückte ihn nun nach vorne und gegen die Wand. Mit einem flüchtigen Blick entdeckte er die drei Anderen etwa zehn Meter weiter. Sich nicht ablenken lassen, nur nicht ausrutschen!
    Sein Fuß trat ins Leere. „Achtung!“, rief Michael ihm zu. „Da ist ein Absatz!“ Das Wasser umfloss nun auch Jans Oberschenkel. Er stemmte sich dagegen. Stehenzubleiben war ihm unmöglich, er musste Schritt um Schritt nachgeben. Kurz bevor er den Ausstieg erreichte, schrie Michael: „Jetzt kommt die kritische Stelle. Das Wasser prallt vom Fels zurück und drückt dich raus. Mach schnell!“
    Tatsächlich schob ihn das Wasser gefährlich weg von der Wand, deren polierte Oberfläche keinen Griff bot. Noch drei Meter, noch zwei, ein letzter Schritt und er konnte Michaels ausgestreckte Hände packen.
    Jenny hatte sich trockene Sachen angezogen. Die Anderen behielten ihr nassen Hosen an. Sie eilten weiter.
    Der Fluss beschrieb eine weitläufige Biegung nach links, bei der er sich im Lauf der Jahrtausende einen immer direkteren Weg gegraben hatte, so dass sich die Schlucht auf ihrer rechten Seite zu einer welligen Mondlandschaft weitete. Das dunkelgraue Vulkangestein war glattgespült, nur hier und da lagen kantige Felsen, die wohl aus der Wand gebrochen und vom Fluss weitergetragen worden waren. Auf hundert Metern Breite stieg dieses alte Flussbett, das im Frühjahr vermutlich vom Schmelzwasser zurückgewonnen wurde, zunächst langsam, dann steiler zur Felswand an. Jan ließ seinen Blick hinaufwandern. Erst die freie Sicht erlaubte, die schwindelerregende Höhe der Wände zu ermessen.
    Schnellen Schrittes und kalten Fußes liefen sie dahin, über Erhebungen und durch Mulden, blickten besorgt nach vorne, wie lange ihr Glück anhalten möge, angstvoll nach hinten, ob ihnen die Mörder folgten. Nach zwei Kilometern verengte sich die Schlucht erneut und bald sahen sie, dass sich diesmal kein verborgener Pfad eröffnen würde. Der Fluss stieß hier auf die weitläufigere Biegung seines alten Bettes und wurde von der Felswand jäh in eine enge Kurve gezwungen. In weiteren Jahrtausenden würde er auch dieses Hindernis entschärft haben, bereits jetzt hatte er die Wand tief ausgespült und in den halbrunden Höhlen brodelten die Strudel, unermüdliche Mahlwerke und unüberwindbare Hindernisse.
    Michael blieb stehen. „Wir müssen zurück und sie daran hindern, die erste Engstelle zu passieren! Wir hätten gar nicht erst weitergehen dürfen!“
    „Dafür ist es zu spät“, antwortete Jenny. „Sie können die Stelle bereits hinter sich haben. Wir müssen uns irgendwo zwischen den Felsen verstecken und hoffen, dass wir sie überraschen können.“
    Jan hielt nach einer Höhle in der Felswand Ausschau. Überall massiver Fels, erst fünfzig Meter über ihnen ein Riss, in dem sich einige Sträucher hielten. Grüne Tupfer in der Hoffnungslosigkeit. Jan musste daran denken, wie sich die Welt zu Beginn seines Drogenrausches in grüne Tupfer aufgelöst hatte. Wenn er nur auch diesmal aufwachen könnte!
    Anna war weitergegangen und stand nun auf den Felsen, hinter denen sich Wasser und Wand wiedertrafen. Sie drehte sich zur Gruppe zurück und winkte sie heran. Die Anderen folgten ihr. Vor ihnen lag eine winzige Bucht, deren Rand sich knapp über die Wasseroberfläche erhob. In der Mitte dieses Pools drehten sich etliche Äste und kleine
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